La prinse et mort du Roy Richart d’Angleterre, based on British Library MS Harley 1319, and Other Works by Jehan Creton, ed. and translated by Lorna A. Finlay (Camden Fifth Series 65) Cambridge / New York / Port Melbourne / New Delhi 2023, Cambridge Univ. Press, XIV u. 379 S., Abb., ISBN 978-1-009-38724-8. – Das Werk Jean Cretons ist weithin unbekannt. Alles, was uns davon erhalten ist, hat mit der Gefangennahme und Absetzung Richards II. durch Heinrich von Lancaster (1399) zu tun; aber wir wissen, dass schon 1386 Philipp der Kühne Creton pour un livre par lui bezahlt hat. Im Auftrag des französischen Königs Karl VI., dessen Tochter Isabella 1396 Richard II. geheiratet hatte, trat Creton während Richards zweiten Feldzugs nach Irland 1399 in das Gefolge des englischen Königs ein. Er war also ein Augenzeuge der Gefangennahme Richards durch den künftigen König Heinrich IV., und sein Zeugnis, das der offiziösen Lancaster-Version widerspricht, ist von grundlegender Bedeutung. Bisher lag es nur in Editionen von J. Webb (1824) und J. A. Buchon (1826) vor. Beide sind fehlerhaft, kennen die hsl. Überlieferung nur unvollständig und verlangten schon längst nach einem Ersatz. Nun endlich legt F. das Gesamtwerk Jean Cretons vor, soweit bekannt, das heißt La prinse et mort du Roy Richart d’Angleterre, zwei Briefe und vier Balladen. La prinse et mort ist der längste Text des Corpus. Verfasst zwischen 1399 und 1402, enthält er drei formal unterschiedliche Teile. Der erste steht in Vierzeilern (drei Zehnsilbler und ein Vers mit vier Silben mit dem Reimschema aaab, bbbc usw.) und berichtet von den Ereignissen, die der Gefangennahme vorausgingen (V. 1–2295). Das Ereignis selbst, das eine größtmögliche Genauigkeit der Darstellung erfordert und auch die Reden der Beteiligten wörtlich wiedergibt, steht notwendig in Prosa. Es folgt eine Ballade, die das Verhalten Heinrichs von Lancaster hart verurteilt. Dann geht Creton wieder zu Versen über, in der verbreiteten Form von paarweise gereimten Achtsilblern (V. 2335–3712), um die Absetzung Richards und ihre unmittelbaren Folgen zu berichten, diesmal nach Informationen aus zweiter Hand. Dieser komplexe Aufbau, der die einzelnen Episoden entsprechend ihrem Platz in der Erzählökonomie und ihren Quellen unterschiedlich behandelt, unterscheidet La prinse et mort von anderen Chroniken, umso mehr, als Creton selbst sich auch noch darum bemüht hat, ein Bildprogramm zu entwerfen, das seinen Text begleiten sollte. La prinse et mort verweist auf Miniaturen, und Creton erklärt in einem Brief an Richard II., dass er par figures et par diz den schrecklichen Verrat aufgedeckt habe, dem der König zum Opfer gefallen sei. Diese subtile und ehrgeizige Konstruktion passt gut zu Cretons perfekter Beherrschung aller Stile. F. lässt den Texten, die uns überliefert sind, Gerechtigkeit widerfahren. Die Einleitung stellt die erhaltenen Textzeugen vor: fünf datieren aus dem 15., einer aus dem 16. Jh., dazu kommt eine neuzeitliche Abschrift (17. Jh.) einer der Kopien aus dem 15. Jh. Die älteste Hs. ist ohne Zweifel London, British Library, Harley 1319 (H), geschrieben für Jean de Montaigu, der sie im Jahr 1405 dem Herzog Johann von Berry schenkte. Zweifellos gab es schon vorher wichtige Abschriften, die heute verloren sind. So weiß man, dass Philipp der Kühne, Herzog von Burgund, am 16. Juli 1402 Creton bezahlte pour et en recompensacion d’un livre faisant mencion de la prinse de feu le roy Richart, offenbar ein anderes luxuriös ausgestattetes Exemplar. Nur eine einzige unter allen Hss., Paris, Bibl. nationale, nouv. acq. fr. 6223 (B), in den 1430er Jahren hastig und wenig sorgfältig geschrieben, nennt den Autor beim Namen. In dieser Hs. finden sich auch die Briefe und Balladen, die in den übrigen Textzeugen fehlen. Die Untersuchung der Überlieferung zeigt die Existenz von zwei Hss.-Familien. Korrekturen in H verweisen auf eine Vorlage, die keiner dieser beiden Familien angehörte. Alle diese Erkenntnisse führen weiter: F. kann belegen, dass La prinse et mort und die Chronique de la traïson et mort de Richart deux roy d’Engleterre, ein zeitgenössischer Text in Prosa, voneinander unabhängig sind. Ihre Biographie Cretons räumt mit phantasievollen Hypothesen auf und kommt zurück auf mögliche Verbindungen zwischen dem französischen Gesandten und dem Grafen von Salisbury. Gegen A. Vararo glaubt F., dass Froissart La prinse et mort gekannt hat, und zwar zweifellos nach einer öffentlichen Lesung. Schließlich äußert sich J. J. N. Palmer (S. 36–42) über den Quellenwert von La prinse et mort, der dadurch bestimmt wird, dass durch einen Augenzeugen Ereignisse erzählt werden, die aus anderen Quellen nicht bekannt sind. Die Edition folgt dem Text von H außer an Stellen, wo dieser offensichtlich korrupt erscheint. Semantische, manchmal auch morphologische und graphische Varianten (wenn sie Auswirkungen auf die Metrik haben), werden im Apparat geboten. Der mittelfranzösische Text wird von einer englischen Übersetzung begleitet. Ein Fußnotenkommentar bietet Sach- und Worterklärungen. Am Schluss des Bandes sind Anmerkungen vor allem zur Sprache des Textes und zu philologischen Fragen versammelt. Das ist noch nicht alles, was an Lektürehilfen geboten wird; es finden sich weiterhin eine Karte der Aufenthaltsorte Richards II. im Jahr 1399 sowie ein Register der Eigennamen. Sicherlich könnte man einige Fehler in der Übersetzung feststellen, den Verzicht auf Verweise auf das Dictionnaire du moyen français in den Anmerkungen bemängeln, einige gewagte Worttrennungen, die zu lexikalischen Phantomen führen wie a rudir für arudir (S. 319 Z. 13). Die Abhängigkeiten zwischen den Textzeugen hätten präziser herausgearbeitet werden können, dann wäre man auch zu sichereren Editionsprinzipien gekommen. Doch diese Kritikpunkte verschwinden vor dem Gewinn, den die neue Edition darstellt. Endlich ist es möglich, das Gesamtwerk Jean Cretons zu lesen in einer Ausgabe, die auch die Varianten der Überlieferung sorgfältig dokumentiert. Das Buch wird für Historiker, Linguisten und Literaturwissenschaftler gleichermaßen gute Dienste tun. Der Anmerkungsapparat ist ein offenes Tor zu zahllosen neuen Forschungsfragen.
Frédéric Duval (Übers. V. L.)