Maximilian Diesenberger, Politik der Bedrohung. Die Ungarn und die Desintegration des Frankenreichs um 900 (Relectio. Karolingische Perspektiven 6) Ostfildern 2023, Jan Thorbecke Verlag, 257 S., ISBN 978-3-7995-2806-1, EUR 29. – Die Ungarneinfälle in das ostfränkische Reich zwischen 899 und 955 haben in der deutschen Mediävistik, mit Ausnahme der Diss. von Maximilian Kellner (1997, vgl. DA 55, 664f.), eher bescheidene Aufmerksamkeit erfahren. D.s Monographie betrachtet dieses Problem nun von einer ganz eigenen Seite. Nach einer kurzen Einleitung in den Forschungsstand zur Ethnogenese der Ungarn und einem ersten Kapitel über die zeitgenössischen Quellennachrichten von der ersten Nennung in den Annales Bertiniani a. 862 bis zu Regino von Prüm (908) ist das lange zweite Kapitel ganz dem „Ungarnbrief“ eines „R.“ an Bischof Dado von Verdun gewidmet, der mit Sigebert von Gembloux mit guten Gründen Remigius von Auxerre zugeschrieben und in die ersten Jahre des 10. Jh. datiert wird. Ausführlich werden Empfänger, Aufbau, Quellen und Inhalt des Briefs analysiert: im Hinblick auf eine moralische (Verfehlungen und göttliche Vergeltung im Anschluss an die Predigten Gregors des Großen), eine exegetische (Diskussion über eine – von Remigius vermiedene – Gleichsetzung der Ungarn mit den biblischen Völkern Gog und Magog), eine ethnographische (Identifizierung von Begleitvölkern, römisches Weltreich, Randgebiete) und eine etymologische Interpretation (Namenwandel von Völkern und Herkunftsgeschichte; Remigius vermeidet jedoch jeden Hinweis auf die Awaren). Mit Regino von Prüm, der immer wieder zum Vergleich herangezogen wird, verbindet ihn die negative Sicht auf die Ungarn und die Frage nach ihrer Herkunft. Das dritte Kapitel behandelt den historischen Hintergrund: die ganz an den karolingischen Traditionen orientierte Politik Karls des Einfältigen; die Auseinandersetzungen der Konradiner mit Matfridingern und Babenbergern – der Brief an Dado erbittet dessen Intervention bei den Matfridingern –; im Osten entgleitet Bayern nach dem Ungarnsieg bei Pressburg 907 ganz der Regierung Ludwigs des Kindes; Regino präsentiert dem jungen König als Negativbeispiel Lothar II., aber Arnolfs Normannensieg an der Dyle als Vorbild für den Ungarnkampf nach Pressburg. Die Ungarn sind ein Faktor beim Verfall des Reichs und ein politisches Argument in Reginos Argumentation. Im Brief stehen hingegen traditionelle Bewältigungsstrategien (Züchtigung durch Gott als Sündenstrafe) und Zeitkritik im Zentrum. Der letzte Teil stellt die Ungarneinfälle in den politischen Kontext fehlender Solidargemeinschaft, wie sie für das westfränkische Reich betont wird (Synode von Trosly). Remigius erkennt die Gefahren (und ihre moralischen Ursachen), steht mit der Warnung aber (fast) allein, parallel zum Briefgedicht Salomos von Konstanz an Dado. Apokalyptischen Ängsten setzt er jedoch eine distanzierte Beurteilung entgegen; Schuldzuweisungen werden in einer fabula versteckt. Sein Ungarnbrief ist gleichzeitig Zeugnis der Desintegration der fragmentierten karolingischen Welt um 900 und Mahnung, den Überblick zu wahren, Zusammenhänge zu erkennen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Mit vielen Seiten- und Rückblicken gelingt es D., in einem einzigen Brief die Bedrohung einer ganzen Epoche gespiegelt zu sehen.
Hans-Werner Goetz