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Jean Gerson écrivain. De l’œuvre latine et française à sa réception européenne. Études réunies par Isabelle Fabre (Publications romanes et françaises 278) Genève 2024, Droz, 636 S., Abb., ISBN 978-2-600-06489-7, EUR 55,92. – Jean Gerson (1363–1429) gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten des späten MA. Sein Amt als Kanzler der Universität Paris verschaffte ihm großen Einfluss, Geistesschärfe verband sich mit Aufstiegswillen, außergewöhnlichen rhetorischen Fähigkeiten und großem Organisationstalent. Gerson war, modern gesprochen, eine Person des öffentlichen Lebens. Angesichts dieser Gemengelage kann es kaum erstaunen, dass in seinem Fall die Trennlinie zwischen dem „öffentlichen“ Gelehrten und dem „universitären“ Politiker nicht immer klar gezogen werden kann. Gerson war sich der Reformbedürftigkeit von Kirche und Welt bewusst. Einfluss versuchte er über eine Fülle von Schriften zu nehmen, die – die Masse an noch erhaltenen Hss. zeigt es – tatsächlich auch gelesen und diskutiert wurden. Der Rolle Gersons als Schriftsteller spürt der in fünf Teile mit insgesamt 21 Beiträgen gegliederte Sammelband nach, in dem nach den Konturen eines Werks gefragt wird, „dont l’unité peut paraître malaisée à cerner, tant elle est abondante et touche à tous les genres ou presque“ (S. 14). Die einzelnen Teile (I. Enjeux poétiques et stylistiques; II. La dévotion gersonienne, pratiques et modalités d’expression; III. Gerson sur la scène politique et intellectuelle; IV. Fortunes de l’œuvre gersonienne; V. Manuscrits et problématiques éditoriales: Vers une nouvelle édition du corpus gersonien) decken ein breites inhaltliches Spektrum ab und betten Gersons Werk mit großem Sachverstand in die Probleme und Debatten der Zeit ein – und dies stets in voller Kenntnis der überbordenden Literatur, die in den vergangenen Jahren keinen Aspekt im Denken und Handeln Gersons unbeleuchtet gelassen hat. Natürlich spielt Gersons Propagierung einer theologia mystica in Abgrenzung zum vorherrschenden spätscholastischen theologischen Lehrdiskurs eine große Rolle, und selbstverständlich wird auf seine Haltung zu umstrittenen politischen Fragen wie dem Tyrannenmord und der Kreuzzugsidee eingegangen. Soweit also nichts Neues? Weit gefehlt. Herausragend etwa der Zugriff von Carla Casagrande / Silvana Vecchio (S. 163–184) auf die Verwendung des Hochfrequenzsubstantivs compassio im Werk des Universitätskanzlers. In diachronem und komparatistischem Zugriff wird der Begriff in die reiche spirituelle, nicht immer trennscharf zwischen pietas, miseratio und misericordia unterscheidende Tradition eingebettet und eine Weiterentwicklung des Sinngehalts im Werk Gersons nachgezeichnet. Compassio wird bei ihm zum Akt der Freiheit, zum Zeichen göttlicher Auserwähltheit: Sie ist die affektive „Stimme“ (vox), die die Bewegungen der Seele regelt und mit der alle anderen Seelenregungen verschmelzen. Wenig überraschend also, dass compassio in der Konzeption der „mystischen Theologie“ eine große Rolle spielt. Für Gerson war Musik von übergeordneter Bedeutung. Graeme M. Boone (S. 185–242) zeigt dies eindrücklich in einem Beitrag, der nicht nur Gersons Kenntnis der zeitgenössischen Musiktheorie beleuchtet, sondern ausgehend von einer Komposition des Guillaume Dufay (Ave regina coelorum), die Gerson auf dem Konstanzer Konzil wohl selbst hören konnte, die affektive Kraft und damit die pastorale Nutzbarmachung von Musik umreißt. Einige wenige Werke Gersons sind in den vergangenen Jahren neu ediert worden, der vorliegende Band trägt weiter dazu bei, denn Daniel Hobbins (S. 509–564) liefert im Anhang (S. 549–564) seines Beitrags zur zeitgenössischen Kanonbildung die kritische Edition einer Auflistung der Werke Gersons (Annotatio II) aus der Feder des Cölestiners Johannes. Grundsätzlich hat die zwischen 1960 und 1973 in zehn Bänden erschienene, von Palémon Glorieux besorgte Edition des Gesamtwerks trotz aller Schwächen noch nichts von ihrer Bedeutung verloren. Doch zu Recht wird (nicht zuletzt vor dem Hintergrund neuer Hss.-Funde) immer wieder, so auch in einigen Beiträgen des Bandes, die Frage nach einer Neuedition der Opera omnia gestellt – ein Unterfangen, dessen Relevanz für die Forschung außer Frage steht. Der Band stellt einen wichtigen Beitrag zur blühenden Gerson-Forschung dar. In ihm wird der literarischen Dimension des Werks, bisher nur am Rande behandelt, endlich die gebührende Aufmerksamkeit zuteil. Demonstriert wird nicht nur der sprachliche Facettenreichtum in den Schriften des Kanzlers (samt der Vielfalt seiner lateinischen und volkssprachlichen Vorbilder), sondern auch die mitunter polemische Rezeption, die von Rabelais über die Jesuiten bis hin zu ekklesiologischen Neuansätzen der Gegenwart reicht. Sicher: Gersons Werk „est suffisamment imposante pour intimider non seulement le novice, mais aussi le chercheur aguerri“ (S. 26), doch wird im vorliegenden Band alles dafür getan, diese Berührungsängste weiter abzubauen.

Ralf Lützelschwab