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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 81,1 (2025) *.

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Die Welt des Evangeliars – Liesborn und das Damenstift (9.–12. Jahrhundert), hg. v. Julia von Ditfurth / Sebastian Steinbach (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Kreises Warendorf 65 – Liesborner Abteigespräche zur Kunst- und Kulturgeschichte 1) Münster 2024, Aschendorff, 220 S., Abb., ISBN 978-3-402-14291-2, EUR 39. – 2017 wurde das wohl im frühen 11. Jh. entstandene „Liesborner Evangeliar“ für das westfälische Museum Abtei Liesborn erworben. Die spektakuläre Erwerbung dieser kostbaren Hs. bildete den Anlass, die Frühgeschichte der Abtei erneut ins Blickfeld zu nehmen. Das Evangeliar war dabei manchmal hilfreich – manchmal nicht. Die magere Quellenlage hat sich durch die Erwerbung des Evangeliars nicht wesentlich geändert. Liesborn wurde im 9. Jh. als Kanonissenstift gegründet, um 1130 in eine Benediktinerabtei verwandelt, die um 1465 Mitglied der reformfreundlichen Kongregation von Bursfelde wurde und eine zweite Blütezeit erlebte. Bardo und Boso gelten als Gründer des Kanonissenstifts. Caspar Ehlers (S. 7–37) versucht diese beiden sächsischen Adeligen ins Gefüge der führenden Familien und Dynastien einzuordnen, kommt dabei aber nicht viel weiter als seine Vorgänger. Immerhin entsteht im Ergebnis eine klare Übersicht über das politische Kräftefeld (Könige, Adel, Bischöfe, Äbte) der Karolingerzeit im Raum Westfalen, aus welchem die Gründung Liesborn hervorgegangen ist. Carla Meyer-Schlenkrich (S. 39–59) stellt in einem gelungenen Aufsatz über den Liesborner Mönch Bernhard Witte, der im frühen 16. Jh. eine umfangreiche, humanistisch angehauchte Geschichte seines Klosters geschrieben hat, fest, dass die Quellenlage zur Frühgeschichte der Abtei schon im 15. Jh. dürftig war. Witte hatte ja als Archivar seines Klosters Zugang zu den damals vorhandenen Akten und Hss., wusste aber über die Zeit des Frauenklosters (bis 1130) kaum Bescheid. Hedwig Röckelein (S. 61–90) belegt überzeugend, dass die Reliquien des Propheten Simeon und der Heiligen Cosmas und Damianus, der Patrone Liesborns, nicht zur Grundausstattung des Klosters gehörten. Die Simeon-Reliquien waren womöglich ein Geschenk einer Liesborner Äbtissin in der ersten Hälfte des 11. Jh. Aus derselben Zeit stammt ein goldenes Vortragskreuz aus Liesborn, einige Textilien werden in die Zeit um das Jahr 1000 datiert. Das Liesborner Evangeliar (LE) als Wertgegenstand aus ma. und aus heutiger Sicht behandelt Gudrun Gleba (S. 91–105), indem sie die zum Teil kostbaren Materialien bewertet, aus denen die Hs. hergestellt wurde, und den Herstellungsvorgang beschreibt. Ihre Einschätzung des Wertes in unserer Zeit übergeht den Befund, dass dieses Buch auf dem Markt angeboten wurde und somit Gegenstand von Nachfrage und Angebot bzw. von Verhandlungen war. Der erzielte Kaufpreis ist ein Ergebnis, das auch höher oder niedriger hätte ausfallen können. Glasklar und lobenswert ist die Analyse von Kolophon und Widmungsgedicht des LE durch Isabel Kimpel (S. 107–121). Aus dem Widmungsgedicht ergibt sich, dass das Evangeliar von Berthildis, der drittletzten Äbtissin von Liesborn, gestiftet wurde (scribi fecerat). Wenn die Entstehung der Hs. ins frühe 11. Jh. und Berthildis’ Amtszeit im späten 11. Jh. angesetzt wird, kann, so K., Berthildis das LE nicht in Auftrag gegeben haben. Nun kennen wir die Amtszeit von Berthildis nicht so genau. Der Versuch K.s, das Verbum scribere als eine formelhafte Formulierung für den Akt des Stiftens zu verstehen, verdient es, weitergedacht zu werden. Ilka Mestemacher (S. 123–136) vergleicht die Kanontafeln im LE mit denen in anderen Evangeliaren und stellt fest, dass die Liesborner Kanontafeln kein hohes künstlerisches Niveau aufweisen. Leider sind ihre Verweise auf die Bilder auf S. 193–204 nur eingeschränkt benutzbar, da dort eine Beschriftung fehlt. Aus kunsthistorischer Sicht beschreibt Christine Jakobi-Mirwald (S. 137–150) die Auszeichnungsschriften, die Initialornamentik und die Initialen im LE und vergleicht sie mit denen in anderen Evangeliaren des 9.–11. Jh. Sie stellt im Ergebnis fest, dass die Ausstattung des LE stilistisch nicht einheitlich ist. Das verwendete Formenrepertoire ist recht breit; der Künstler hat womöglich aus dem Gedächtnis (nicht nach einer Vorlage) gearbeitet. Eine tiefgehende Analyse der wohl im 12. Jh. im LE auf einem Einzelblatt hinzugefügten Radfigur bietet Ulrich Rehm (S. 151–168). Die Grundlage für die komplexe Darstellung bilden die biblischen Seligpreisungen im Matthäus-Evangelium, die von Paschasius Radbertus (9. Jh.) in seinem Matthäus-Kommentar mit den Anrufungen des Vaterunsers verknüpft wurden. Die Lektüre der Beschriftung (in unterschiedlichen Richtungen) erfordert, dass das Rad permanent gedreht wird. Das Heranziehen ähnlicher, auch jüngerer Räder zum besseren Verständnis erweist sich als sinnvoll. Neue Einblicke bietet auch Tina Bawdens (S. 169–188) kunsthistorischer Beitrag über eine Zeigefigur auf einem (fast) leergebliebenen Blatt des LE. Handelt es sich um eine reine Federprobe, oder hat die Figur eine ikonographische Bedeutung und eine Funktion innerhalb der Hs.? Stammt sie von der Schreiberhand, oder wurde sie nachgetragen? Ist eine Verbindung zum Text nachweisbar? Oder wurde die Figur aus einem anderen Kontext übernommen? Das LE ist mit dem Erscheinen dieses Buchs wesentlich besser erschlossen als vorher. Der Beitrag des LE zur Frühgeschichte des Klosters Liesborn ist dagegen bescheiden.

Eef Overgaauw