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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 81,1 (2025) *.

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Rethinking Reform in the Latin West, 10th to Early 12th Century, ed. by Steven Vanderputten, Leiden / Boston 2023, Brill, XIII u. 340 S., Abb., ISBN 978-90-04-54642-4, EUR 203,30. – Der Sammelband vereint neben der Einleitung elf Beiträge in drei Sektionen und geht auf eine Tagung in Gent im Jahr 2019 zurück. Er fügt sich gut in eine Reihe von neueren Publikationen ein, die sich mit dem Reformbegriff und dessen Implikationen beschäftigen, wobei hier die nachkarolingische Epoche im Mittelpunkt steht. In seiner Einleitung gibt der Hg. (S. 1–20) einen instruktiven Überblick über die Forschungsgeschichte und die verschiedenen Konzeptualisierungen von „Reform“ v. a. in Hinblick auf monastische und kirchliche „Reformen“ des 10.–12. Jh. Die Beiträge wollen explizit ältere Forschungspositionen thematisieren und problematisieren und neue Wege des Verständnisses von Reformbemühungen in ihren unterschiedlichsten Facetten aufzeigen. Rutger Kramer (S. 23–44) beschäftigt sich mit den sogenannten karolingischen Reformen und „will focus on the anxiety in our sources, and in the process explain texts as expressions of hope that the changes wrought are the correct ones“ (S. 26). Er untersucht die Prologe der Admonitio generalis und der Institutio canonicorum und stellt die Spannung heraus, in der sich die weltliche und kirchliche Elite befand, die sich zwischen Unsicherheit, ob die getroffenen Maßnahmen richtig seien, und Zuversicht bewegte, was zugleich auch der Antrieb für die Reformbemühungen war. Der Hg. (S. 45–68) nimmt das sogenannte Reformmönchtum um das Jahr 1000 in den Blick und geht zunächst auf ältere Konzepte von monastischer „Reform“ ein. Anschließend widmet er sich der Dekonstruktion dieser älteren Thesen und stellt aktuelle Tendenzen der Forschung vor. Brigitte Meijns (S. 69–93) fokussiert auf die „Reform“ des Klerus. Sie behandelt die drei wichtigsten Forschungsfelder, die Kleriker betreffen: die sogenannte Gregorianische Reform mit ihrem Fokus auf Simonie, Nikolaitismus und Laieninvestitur, die Kanoniker sowie die Bischöfe. Sie zeigt dabei jeweils die Hauptpositionen der älteren Forschung auf, und wie diese durch neuere Ergebnisse weiterentwickelt werden konnten. Darüber hinaus schildert sie Tendenzen und Schwerpunkte der neueren Forschung der letzten 30 Jahre und fragt nach künftigen Perspektiven. Nicolangelo D’Acunto (S. 94–109) widmet sich sodann der sogenannten Reform des Papsttums und spricht sich dafür aus, sich stärker auf die „instruments through which the popes tried to put the presence of their institution on a new basis“ (S. 97) zu konzentrieren. Er stellt zudem die Unterschiede zwischen den Forschungstraditionen der europäischen Länder heraus, mit einem Fokus auf Italien. Robert F. Berkhofer III. (S. 113–133) nimmt die soziale bzw. gesellschaftliche Dimension der „Reformen“ in den Blick. In einem ersten Schritt widmet er sich den wirtschaftlichen Tätigkeiten im monastisch-kirchlichen Bereich wie z. B. der regen Bautätigkeit oder der Verwaltung von Gütern. In einem zweiten Schritt fokussiert er auf die Bedeutung von Schutz, z. B. in Form von Gottesfrieden, Immunität und Exemtion sowie die Rolle der Vögte. Abschließend betrachtet er die Kategorien von Gender und Sexualität und deren soziale Dimensionen, z. B. in Bezug auf die Priesterehe und den Zölibat. Rachel Stone (S. 134–157) thematisiert das Konzept von Männlichkeit. Die Forschung (insbesondere Jo Ann McNamara) konstatiert für das hohe MA eine Krise der „clerical masculinity“ und ein „female disempowerment“ (S. 136f.). S. illustriert dies anhand der Reformrhetorik und der Gewaltanwendung durch Kleriker, hält aber fest, dass diese Krise durch neuere Forschungsergebnisse infrage gestellt wird. Weniger erforscht ist die „lay masculinity“ (S. 145), die S. anhand von Rittertum, Kreuzzügen sowie Ehe und Sexualität untersucht. Abschließend zeigt sie neue Forschungsperspektiven auf (z. B. männliche Emotionen). Catherine Cubitt (S. 158–181) widmet sich der Laienfrömmigkeit und fragt anhand von drei Fallstudien, bei denen Testamente als Quellen eine bedeutende Rolle spielen, danach, wie sich das sogenannte benediktinische Reformmönchtum im 10. und 11. Jh. in England auf die Laienfrömmigkeit auswirkte. Ludger Körntgen (S. 185–195) beschäftigt sich mit Bußbüchern und deren Bedeutung als disziplinarisches Mittel. In der Karolingerzeit wurden sie kontrovers gesehen. Hauptkritikpunkte waren zum einen das Fehlen eines namhaften bzw. überhaupt sicher bekannten Autors und somit fehlende Autorität, und zum anderen, dass sie die kirchliche Hierarchie missachteten, regelten sie doch auch Sachverhalte, die nur auf bischöflicher Ebene verhandelt werden konnten. K. stellt im Folgenden mehrere Bußbücher und deren Intentionen sowie die Bezüge zu den karolingischen Reformbemühungen vor. Ein stetes Aktualisieren und Anpassen ist dieser Art von Texten inhärent und reicht letztlich bis ins Hoch-MA zu Burchard von Worms. Gordon Blennemann / Anne-Marie Helvétius (S. 196–221) stellen den großen Wert hagiographischer Quellen heraus. Sie können ein wichtiger Spiegel für die Aufnahme von Reformbemühungen bei den Zeitgenossen sein. So existierten beispielsweise ältere Texte und Neuschöpfungen der Reformzeit nebeneinander, wobei der Heiligenkult eine nicht unerhebliche Rolle spielte oder die Bedeutung der Viten für ein Laienpublikum. Diane Reilly (S. 222–255) beschäftigt sich mit dem (angeblichen) Einfluss von „Reform“ auf Kunst, Architektur und Hss.-Produktion. Konkret spricht sie die „Outer Crypt“ (S. 228) an, die mit der sogenannten Gorzer Reform in Verbindung gebracht wird, die sogenannte cluniazensische Architektur, die Riesenbibeln sowie die Architektur der Grammontenser und deren Ausstattungsgegenstände. R. stellt die Bedeutung der Liturgie als Antriebsfeder heraus und macht deutlich, dass diese angeblichen Neuerungen traditionellen Bahnen verhaftet sind. Den Abschluss bildet der Beitrag von Julia Barrow (S. 256–269). Sie betrachtet den Gebrauch von Sprache „to explain and justify change in religious institutions“ (S. 258) vom 9. bis zum 12. Jh. anhand verschiedener Quellen und in unterschiedlichen Kontexten. Sie hält fest, dass Reformvokabular, v. a. reformare, anfangs noch sehr sporadisch benutzt wurde, der Gebrauch ab der Mitte des 12. Jh. dann aber deutlich zunahm. An die Beiträge schließt sich die ausführliche Bibliographie (S. 271–329) an, die Hss., Quellen und Literatur nennt, und das Register (S. 330–340), das Einträge zu Personen, Orten und Quellen vereint. Auch wenn man sich bei dem ein oder anderen Aufsatz eine flüssigere Lesbarkeit und klarere Struktur gewünscht hätte, gibt der Sammelband einen guten Überblick über die Traditionen, aktuellen Tendenzen und zukünftigen Herausforderungen der Forschung im Hinblick auf die sogenannten Reforminitiativen in Mönchtum und Kirche des 10.–12. Jh.

D. T.