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Magali Coumert, La loi salique. Retour aux manuscrits (Collection Haut Moyen Âge 47) Turnhout 2023, Brepols, 436 S., Abb., ISBN 978-2-503-59986-1, EUR 75. – Wer sich auf das Feld der Leges begibt, der befindet sich auf schwerem, bisweilen geradezu vermintem Gelände. Das liegt zum Teil an den schwierigen Fragen der Entstehung der jeweiligen lex, mehr aber noch an der Überlieferung, deren Komplexität eine textkritische Durchdringung teilweise unmöglich macht. Insoweit bleibt ein kritisch gesicherter und handhabbarer Leges-Text ein Desiderat. Die von Wilfried Hartmann vor bald dreißig Jahren gestellte Frage: „Brauchen wir neue Editionen der Leges?“ (MGH Schriften 42, 1996, S. 233–245) hat bislang noch niemand mit „Nein“ beantwortet. Für die Lex Salica gilt das alles in besonderem Maß: Schon die Überlieferung ist überwältigend, sind doch noch 93 Textzeugen erhalten, die üblicherweise in nicht weniger als sieben Versionen eingeteilt werden: A, C, D, E, K, S und V. Als dominierend erweist sich dabei die K(arolina)-Fassung, die mit über 60 Hss. vertreten ist und allgemein mit Karl dem Großen und den von Einhard beschriebenen Bemühungen um Verbesserung der Leges nach der Kaiserkrönung in Verbindung gebracht wird. Wer nach einem kritischen und verlässlichen Text sucht, wird sich schwertun. Heranzuziehen sind nämlich die MGH-Editionen von Karl August Eckhardt (1901–1979), 1962 und 1969 in der Leges-Reihe publiziert. Eckhardt hat viele Hss. eklektisch, aus zweiter Hand oder auch gar nicht benutzt, manche seiner a priori-Annahmen erweisen sich als unbegründet und haltlos. Zudem wirkt seine Edition dank der Vielzahl von Spalten und wiedergegebenen Versionen überladen und irritierend, so dass man sich nur mit Mühe zurechtfindet. Kurz: Eine „édition satisfaisante“ (S. 29) der Lex Salica stellt die Ausgabe Eckhardts nicht dar, es gibt sie bis heute nicht. Genauere Analysen dieser Edition (mit Seitenblicken auf die Karriere und die NS-Vergangenheit des Editors), aber auch der anderen im vergangenen Jahrhundert unternommenen Versuche, des Textes Herr zu werden, kann man im ersten von insgesamt acht Großkapiteln nachlesen. Relativ ausführlich wird man über die nie zu Ende gebrachte Edition von Bruno Krusch († 1940) unterrichtet, der freilich in seinen letzten Jahren mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen und dessen Sehkraft erheblich nachgelassen hatte (vgl. S. 43). Die Edition, an der später Levison noch weitergearbeitet hat, ist nie erschienen, das Manuskript verschollen. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass C. die Materialien des MGH-Archivs herangezogen hat, was für die Gründlichkeit der Recherche spricht. Relativ kurz wird die für die MGH nicht eben rühmliche Affäre um die Edition von Mario Krammer erörtert. Von der kurz vor dem Erscheinen stehenden und dann auf Grund vernichtender Kritiken (u. a. von Krusch) eingestampften Edition (1915) haben sich einige Probedrucke im MGH-Archiv erhalten, zwei Seiten sind S. 32 abgebildet, völlig sinnlos übrigens, denn lesen kann man so gut wie nichts (dieselben Seiten in einem Exemplar aus dem Nachlass Eckhardts mit Annotationen von Levison S. 52). Das gilt auch für etliche andere Abbildungen, etwa für das in miserabler Qualität wiedergegebene Miniaturstemma von Krusch (ca. 1 x 4 cm, S. 44) und viele weitere, die ebenfalls in sehr schlechter Qualität geboten werden: nicht gerade ein Ruhmesblatt für Lektorat und Verlag. So wenig wie Kruschs Edition ist auch Eckhardts geplante Ausgabe von 1944 erschienen. Sie scheiterte kriegsbedingt hauptsächlich am Papiermangel. Wohl mag sie besser gewesen sein als die erste Edition von 1934 (S. 36–40), in C.s Augen ist sie jedoch nichts als ein „camouflage de l’absence d’édition scientifique“ (S. 56). An Eckhardts Ausgabe(n) übt C. immer wieder harsche Kritik (bes. S. 59–61). Einen Hauptfehler der bisherigen Editoren sieht sie generell in der vergeblichen Suche nach einer „Urfassung“, einem „Urtext“ (vgl. S. 69). Dieser Vorstellung hing auch Eckhardt an, für C. ist der Versuch einer Rekonstitution „du texte original“ eine Art Fata Morgana, „un défi unsurmontable“ (S. 22), und es sei hohe Zeit, sich von solchen Vorstellungen zu verabschieden (S. 156). Damit mag sie wohl recht haben, aber man hätte doch gerne eine klare Alternative. Wie wäre die Präsentation eines Textes möglich, der sich den herkömmlichen editorischen Prinzipien entzieht, für den erst neue Editionswerkzeuge und -methoden entwickelt werden müssten, wenn er nicht „unedierbar“ bleiben soll? Eine Antwort darauf bleibt C. leider (aber verständlicherweise) schuldig. Ob die Lösung in einer Prüfung der hsl. Überlieferung liegt? Darum kreisen die Großkapitel 2–8, sie behandeln Hss.-Gruppen und Hss., zum Teil auch textkritische Probleme. Das kann in diesem Rahmen nicht detailliert erörtert werden, zumal es sich oft um Spezialprobleme handelt, deren Relevanz sich zunächst nur dem Kenner erschließt. Es muss daher mit einigen wenigen Beobachtungen sein Bewenden haben. Die Bezeichnung der Hss.-Gruppen bleibt übrigens die gewohnte (nach Eckhardt), die Siglen der einzelnen Hss. ebenso. Hss. aus der Merowingerzeit gibt es nicht, insofern liegt eine beträchtliche Zeit zwischen der mutmaßlichen Entstehung der Lex um 500 und ihrem ersten Erscheinen um 750. Allgemein gilt, was den Text angeht, die Gruppe A als älteste und maßgeblich. Hinter A1 (S. 94–99) verbirgt sich Cod. Par. lat. 4404, „die vielleicht eindrucksvollste frühmittelalterliche Handschrift des weltlichen Rechts“ (Mordek), die „das ganze Heer der andern Lex Salica-Handschriften weit überragt“ (Krusch). Geschrieben hat sie ein Audgarius (vor 814). Schwieriger zu interpretieren ist der Name Peregrinus (fol. 3); er könnte schlicht einen weiteren Schreiber bezeichnen, andererseits aber auch in sehr diffizilem Zusammenhang mit der Bibelrevision unter Karl d. Gr. stehen (vgl. S. 330–342: „le manuscrit A1 et le modèle biblique“). Die Gruppe A ist erheblich vielfältiger, als Eckhardt das wahrhaben wollte, der die vier Hss. in einen 65-Titel-Text gepresst hatte. A1 überliefert 76 Kapitel, A2, die älteste der Gruppe und der Lex Salica-Hss. überhaupt (noch in die Zeit Pippins fallend), heute Wolfenbüttel, Herzog August Bibl., Weißenburg 97, ist von einem Agambertus geschrieben, hier findet sich auch die sogenannte Parodie auf die Lex (vgl. S. 220–225). Davon, dass diese Gruppe einen 65-Kapitel-Text tradiere, kann keine Rede sein, das tut nur Par. lat. 9653 (A4). A1 hat 76 Titel, A2 zählt 93 und A3 83. Ein Stemma der vier Hss. ist nach C. nicht möglich (vgl. S. 105), die ganze Gruppe in ihrer Repräsentation durch Eckhardt „un leurre“. Die Version B, für die sich Eckhardt wesentlich auf die Edition von Johannes Herold stützte, kann hier beiseite bleiben, da letztlich eine Erfindung („invention“) Eckhardts (S. 86–92). Die Leidener Hs. Univ.-Bibl., BPL 205 (Version C), in der Eckhardt einen angeblich Herold vorliegenden Typus sah, war dies nicht, C. weist die These mit Verweisen auf Herolds unkritische und auch nicht hss.-getreue Arbeitsweise zurück. Es ist, wie gesagt, nicht möglich, alle Einzelergebnisse und Thesen des Buchs anzusprechen, geschweige denn zu kommentieren. Deshalb sei nur noch ein kurzer Blick auf Grundbestandteile von C.s Frageraster geworfen. Nämlich einmal die Frage, welche Verbindungen sich zwischen der Lex und dem „legislateur“, in diesem Fall dem König, ausmachen lassen. Bekanntlich ist die Lex Salica hinsichtlich des Herrschers eher schweigsam. Insofern ist es eine interessante Fragestellung, wie seine Rolle zur Geltung gebracht wird. Allerdings sollten die Ergebnisse hinsichtlich ihres Ertrags auch nicht überbewertet werden. Ein zweiter Punkt ist die Rolle der Kopisten, die m. E. ziemlich überschätzt wird. C. betrachtet die Lex als einen offenen Text, von dem uns bis Mitte des 8. Jh. nichts erhalten ist, ein maßgebliches, authentisches, sozusagen „amtliches“ Exemplar gab es nicht. So waren es denn „les copistes“, die das ihnen zur Verfügung stehende Material ergänzten oder umformten, woraus dann wieder neue Versionen entstanden (vgl. u.a. S. 156). Das schließt natürlich eine entsprechende Aktivität des Herrschers aus, von einer systematischen Anstrengung, der Lex ein definitives Aussehen zu geben und dies als maßgebliches und verbindliches Exemplar durchzusetzen, kann nach C. nicht die Rede sein. Insofern begegnet sie auch dem Vorschlag Karl Ubls, die D-Fassung der Regierungszeit Pippins zuzuordnen und die Fassung E als Produkt einer ersten „Leges-Reform Karls des Großen“ (789; vgl. DA 74, 251–253) anzusehen, mit spürbarer Zurückhaltung (S. 73, 284, 287–289). Andererseits: Sollen wir uns die E-Version sozusagen als ein aus ‘wilder Wurzel’ entstandenes Produkt der doch vom Hof mit Nachdruck geförderten Karolingischen Reform vorstellen, „même si elle [= la cour] n’avait peut-être aucun lien direct avec elle“? Sehr skeptisch wird man aufnehmen, dass dies mutatis mutandis auch für die Karolina zu bedenken sei. Wohl habe es zu dieser Zeit eine tiefgreifende Neuorientierung auch im Rechtsdenken gegeben, aber: „Charlemagne lui-même n’a pas provoqué de rupture importante dans ce système juridique“ (S. 401), dominierend auch hier die „Kopisten“, deren Selbstverständnis sich gewandelt habe: „Ils … s’y étaient pliés à un rôle de simples reproducteurs du texte de la loi salique“ (S. 392). So fand die Lex dann zu einer in karolingischem Reformgeist gereinigten, festen Form, auch sie „un choix des copistes“ (S. 401). Es gehört nicht viel zu der Vorhersage, dass dieser These kaum der ungeteilte Beifall der Fachwelt beschieden sein wird. Der K(arolina)-Fassung gesteht C. keinen „offiziellen“ Charakter zu. Weder Karl noch Ludwig hätten in ihr eine „version officielle“ gesehen (S. 299), die Kopisten hätten K nie einen Primat „sur les textes antérieurs“ zuerkannt (S. 306), was sich partiell gegen Karl Ubl richtet, der einen „aspect officiel du texte“ mit Recht wahrnehmen will. Gleichwohl wurde die K-Fassung im 9. Jh. zur dominierenden Version der Lex, in der Überlieferung befinden sich relativ viele kleinformatige Hss., die den Gedanken nahelegen, dass sie – im Gegensatz zu großformatigen – zur Verwendung in der Praxis gedacht waren (Beispiele S. 311–314, 380, 385, 398). Versucht man nun eine Gesamtwertung dieses Buchs, so wird man zuerst sagen: Respekt. Respekt vor dem Wagnis, sich auf ein so schwieriges Feld zu begeben, Respekt vor dem Mut, mit einem solch gewichtigen Werk auch der frankophonen Forschung einen kräftigen Impuls zu weiterer Lex Salica-Forschung zu geben, Respekt auch vor der gewaltigen Arbeitsleistung, die C. zu bewältigen hatte. Aber wie immer: Es gibt auch Schattenseiten. Einmal abgesehen davon, dass man sich bisweilen eine etwas konzinnere Darstellung, präzisere Fragen und kompaktere und möglichst eindeutige, klar formulierte Antworten gewünscht hätte: Ein paar Dinge sind kritiklos kaum hinzunehmen. Dazu gehört die Tatsache, dass das Buch lediglich durch ein dürftiges Hss.-Register erschlossen werden soll (S. 431–436). Das ist für ein Werk von über 400 Seiten (das zudem vielfach Nachschlagezwecken dienen wird) entschieden zu wenig und mir unbegreiflich. Hinzu kommt noch eine schwer entschuldbare Unterlassung: Viele Bibliotheken (die großen zumal) haben ihre Hss. ins Netz gestellt, insofern kann man sich leicht des Textes vergewissern, sofern man neugierig oder wegen des Dargebotenen irritiert ist. Und natürlich wird man da auch fündig: fol. 88v von Cod. Leiden, Univ.-Bibl., VLQ 119, heißt es quem (sc. librum) … primus rex Francorum statuit ut postea ut una cum Francis pertractavit; das zweite ut fehlt S. 112, was in diesem Fall um so ärgerlicher ist, als C. den richtigen Text schon bei Eckhardt, Pactus S. 253 in der Spalte, die A17 wiedergibt (= Voss. 119), hätte lesen und sich somit den Rückgriff auf die Hs. sparen können. Eine Mixtur aus Eckhardts Druck und der Hs. scheinen auch die eineinhalb Zeilen auf der nächsten Seite zu sein, die ebenfalls aus der Hs. stammen (sollen): … nomina eorum qui fecerunt lege salicae … qui vero manserunt in lege salica in budice. In der Hs. heißt es fecerunt lege salice, und genauso lautet der Text an der zweiten Stelle: in lege salice. Eckhardt druckt: fecerunt lege salicae und in lege Salice (Pactus S. 3). Unstimmigkeiten dieser Art lassen sich öfter feststellen. Ein weiteres Beispiel: S. 117 Anm. 246 wird aus Cod. Par. lat. 18237 zitiert (Prolog): Erstens heißt es nominibus und nicht hominibus, vor per tres mallas fehlt qui, es heißt auch nicht discudiendum, sondern discuciendum, höchstwahrscheinlich auch ad ubi deo favente (und nicht: ab ubi …) schließlich wieder praetiosos und nicht pretiosos. Da wirkt es dann etwas pseudogenau, wenn hss.-getreu onnes (statt omnes; ähnlich S. 127, wo caus, das man für einen Druckfehler hält, in Wirklichkeit ein Schreibfehler ist) abgedruckt wird. Solche kleinen Ungenauigkeiten und Flüchtigkeiten ließen sich eher verkraften, wenn sich die Vf. die Mühe gegeben hätte, die jeweiligen Internetadressen mitzuteilen. Aber davon kann keine Rede sein. Der Benutzer ist ganz auf sich gestellt, obwohl C. nicht ganz wenige Hss. „à travers sa reproduction électronique“ benutzt hat. Hätte sie dem Problem etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt, dann wären Bemerkungen wie „Je n’ai pu consulter ce manuscrit“ (S. 119 Anm. 251) verzichtbar gewesen. Und besonders verdrießlich ist es, wenn sie selber verkündet, die behandelten Hss. seien „en ligne“ (S. 344), das Fragment Clm 29560 sogar „visible en ligne en couleurs“ (S. 345 Anm. 89), aber nicht im Traum daran denkt, die Adressen mitzuteilen, anderenorts aber gar das Abrufdatum der Internetbenutzung angibt (S. 358 Anm. 152). Wer solches für kleinkariertes Gemecker hält, den wird es auch nicht stören, dass es „Dummler“ statt Dümmler heißt (S. 164 Anm. 26, ebd. tribua, und nicht tributa), dass wenige Zeilen später Anm. 28 das für das Verständnis nötige „Fassung des“ fehlt oder S. 169 die Seitenangabe 244, dass es ständig (bis ins Register hinein) Peterburg statt Petersburg heißt etc. etc. Reine Buchstabenstecherei? Nicht nur, und Sätze wie „La correction multarum proposée par Eckhardt, ibid., p. 171 ne me paraît pas justifiée“ (S. 248 Anm. 13) sollte man gar nicht hinschreiben, wenn sie nicht stimmen. Eckhardt, hier muss man ihn in Schutz nehmen, druckt an der angegebenen Stelle bei allen wiedergegebenen Textzeugen multorum, eindeutig auch für E11 (Vat. Reg. lat. 846). Kurz und knapp: C. zeigt an nicht ganz wenigen Stellen in puncto formeller Korrektheit eine gewisse (Nach-)lässigkeit. Sieht man darüber großzügig hinweg, dann hat sie mit ihrem thesen- und detailreichen Buch einen gewichtigen Beitrag zur Lex Salica-Forschung geleistet. Künftige Arbeiten werden um dieses Werk nicht herumkommen, und ich bin sicher, dass es den ihm gebührenden Platz in der Lex-Salica-Forschung finden wird.

Gerhard Schmitz