DA-Rezensionen online

Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 81,1 (2025) *.

Sie bleibt nach Erscheinen der Printausgabe online verfügbar.

Andreas Friedolin Lingg, Die Entdeckung der Wirtschaft. Der mittelalterliche Bergbau und die Vermehrung der Welt, Konstanz 2023, Konstanz Univ. Press, 357 S., Abb., ISBN 978-3-8353-9164-2, EUR 38. – Eine mutige These steht am Beginn dieses Buchs: In unterschiedlichen Teilen Europas habe sich das ökonomische Denken in der frühen Neuzeit grundsätzlich gewandelt und die Grundlagen der modernen Wirtschaftswissenschaften ausgebildet. Diese ideengeschichtliche Transformation habe sich in den drei Themenfeldern Handwerkskünste, Handel und Seefahrt sowie Silberbergbau und Montanwesen ereignet. Dem Bergbau als einem dieser „wahrscheinlich entscheidenden Faktoren für die Entstehung einer gänzlich neuen ökonomischen Herangehensweise“ (S. 24) gilt die Aufmerksamkeit des Vf. Die in diesem Kontext erfolgte Innovation des mitteleuropäischen ökonomischen Denkens brachte einerseits die Überwindung der ma. Ökonomik mit ihrer Konzentration auf die Landwirtschaft und mit der Ferne des Herrschers von der Wirtschaft mit sich und förderte andererseits die neue Konzeption vom Land und seiner Bevölkerung als einer ökonomischen Einheit. Das neue Denken durchbrach damit traditionelle Grenzen und hielt erstmals wirtschaftliches Wachstum avant la lettre in einer erweitert gedachten Welt für möglich. Die wichtigsten Schriften, die diesem Denken verbunden sind, entwarfen daher – so der Vorschlag des Vf. für dieses neue Wirtschaftsdenken – eine „enthemmte Ökonomik“. Um seine Thesen zu belegen, führt er seine Leser durch die Geschichte des ökonomischen Denkens im römischen Reich vom 12. bis zum 16. Jh. und verknüpft dieses dabei stets eng mit der Geschichte des sächsischen Silberbergbaus. Das Ergebnis ist eine anregende und überaus dichte Darstellung, in der zunächst die Anfänge und Rahmenbedingungen des Silberbergbaus sowie die in diesem Kontext entstandenen ökonomischen Schriften im Mittelpunkt stehen. In den letzten Kapiteln dringt der Vf. inhaltlich und zeitlich zum Kern seines Interesses vor. Ausgewertet werden hauptsächlich Schriften zur Ökonomie aus dem sächsischen Raum, beispielsweise Melchior von Osse, Testament gegen Hertzog Augusto (1556), Jakob Bornitz, Aerarium (1612), und Georg Engelhard von Löhneysen, Aulico Politica (1622). Es sei kein Zufall, dass es diese Autoren aus dem Umfeld der großen Bergbaureviere sind, die einer „enthemmten Ökonomie“ das Wort reden, in der der Landesherr nicht mehr losgelöst in seiner politischen Sphäre regiert, sondern gemeinsam mit seinen Untertanen in ihren verschiedensten Professionen dem „Staatshaushalt“ vorsteht. Der Bergbau spielte dabei sowohl für die Finanzierung der Politik als auch als Ideengeber für die Ökonomik eine zentrale Rolle. Die besondere Verbindung von einer Technikgeschichte des Bergbaus und einer Ideengeschichte des Ökonomischen – beruhend auf einer Ausbildung des Vf. im Fach der Wissenschafts- und Technikphilosophie – macht die Lektüre anspruchsvoll, gelegentlich abstrakt, aber stets lehrreich und kurzweilig. Manche Sätze muss man (oder ich?) öfter lesen. Ob die These in ihrer Radikalität alle Leser überzeugt, wird sich zeigen. Dass jedoch auch der Bergbau neben dem Handwerk und dem Handel eine Rolle bei der Transformation des ökonomischen Denkens an der Wende vom MA zur Neuzeit spielte, hat durchaus Überzeugungskraft. Ob „enthemmte Ökonomie“ der richtige Begriff dafür ist, scheint mir dagegen unsicher. Die thesenstarke Studie wurde mit dem Hans Christoph Binswanger Preis 2023 der Univ. St. Gallen ausgezeichnet.

Thomas Ertl