Michael J. Kelly / K. Patrick Fazioli (ed.), Social and Intellectual Networking in the Early Middle Ages, Binghamton (N.Y.) 2023, punctum books, 243 S., ISBN 978-1-68571-054-5, USD 23 (Open Access: ISBN 978-1-68571-054-5; https://doi.org/10.53288/0374.1.00). – Die historische Netzwerkforschung befindet sich in der deutschen und internationalen Mediävistik seit mehr als einem Jahrzehnt erkennbar im Aufwind. Gerade im Zeichen der Digitalisierung und der Digital Humanities gewinnt die ihr zugrundeliegende mathematisch-statistische Methodik zunehmend an Attraktivität und Gewicht. Gleichwohl ist die Netzwerkanalyse noch keineswegs im Mainstream der Geschichtswissenschaft angekommen, und viele ihrer unbestreitbaren Erkenntnispotenziale wie auch methodologischen Herausforderungen sind noch wenig ausgeleuchtet. Gerade für die Früh-MA-Forschung ist wiederholt – auch vom Rez. – festgestellt worden, dass diese quantitative Methode, die das Vorhandensein einer ausreichenden Quantität valider Daten von idealerweise serieller Natur voraussetzt, hier an ihre natürlichen Grenzen stößt. Umso mehr ist zu begrüßen, dass der kleine, aber sehr gehaltvolle Sammelband sich gerade dieser Herausforderungen annimmt und überzeugende Lösungen präsentiert. Er geht auf eine internationale Tagung in Nijmegen (2017) zurück. Es ist eine außerordentlich geschickte strategische Entscheidung, dass diese Bestandsaufnahme sich weniger mit den quellenbedingt schwer rekonstruierbaren personalen Netzwerken des Früh-MA beschäftigt, sondern vielmehr die intellektuellen „Netzwerke der Ideen“ in den Blick nimmt, die ihre bis heute gut erkennbaren Spuren in der reichen schriftlichen Überlieferung der karolingerzeitlichen Skriptorien hinterlassen haben. Auf sehr ansprechende Weise werden hier altbewährte und spannende Forschungsansätze und -fragen der Wissenschaftsgeschichte und Editorik verbunden mit einer innovativen und auf den Forschungsgegenstand gut passenden netzwerkanalytischen Methodik. Kurz gefasst: Es geht in den insgesamt fünf Fallstudien vor allem um Texte – etwa die Etymologiae des Isidor von Sevilla (dazu Evina Steinová, S. 191–235) oder um die zahlreichen Florilegien der frühma. grammatischen Schulliteratur (dazu Elizabeth P. Archibald, S. 69–91). Untersucht werden diese zahlreichen und in sich jeweils höchst komplexen Textzeugen auf gegenseitige Abhängigkeiten und Beeinflussungen, welche wiederum Rückschlüsse auf die Beschaffenheit karolingerzeitlicher Wissensnetzwerke von Gelehrten und geistlichen Institutionen zulassen. Flankiert werden diese methodologisch höchst anregenden Beiträge von Analysen der „Networking-Strategien“ von fränkischen Gelehrten der Merowingerzeit (Yitzhak Hen, S. 93–115) bzw. im Asturien des 9. Jh. (Ksenia Bonch Reeves, S. 117–159) sowie einer Studie zum intellektuell-politischen Beziehungsgeflecht der norditalienischen Abtei Novalesa im 8./9. Jh. (Edward M. Schoolman, S. 161–190). Besonders hervorzuheben ist ferner der einführenden Charakter tragende Beitrag von K. Patrick Fazioli, Modeling the Middle Ages: A Review of Historical Network Research on Medieval Europe and the Mediterranean World (S. 37–68). Wenn derselbe eingangs zu Recht moniert: „Although several overviews of medieval network research have been recently published in German, very little is available for a non-specialist English-speaking audience“ (S. 39), so kann nach Lektüre seines Aufsatzes, welcher das Feld kundig, kritisch und scharfsichtig abschreitet, festgehalten werden, dass jenes Defizit nunmehr ein Stück weit ausgeglichen worden ist. Dieser Sammelband kann allen, die sich für Wissensnetzwerke des Früh-MA wie für die netzwerkanalytische Methodik allgemein interessieren, wärmstens empfohlen werden – erfreulicherweise ist er auch im Open Access zugänglich.
Robert Gramsch-Stehfest