Crafting Knowledge in the Early Medieval Book. Practices of Collecting and Concealing in the Latin West, ed. by Sinéad O’Sullivan / Ciaran Arthur (Publications of The Journal of Medieval Latin 16) Turnhout 2023, Brepols, 524 S., Abb., Tab., Taf., ISBN 978-2-503-60247-9, EUR 115. – Der Sammelband vereint 15 Beiträge. In ihrer Einleitung macht Sinéad O’Sullivan (S. 11–38) deutlich, dass im frühen MA Sammeln und Verschleiern von Wissen bedeutende Kulturtechniken darstellten, die sich in unterschiedlichen Ausformungen zeigten. Anna A. Grotans (S. 39–89) untersucht, wie sich „various models of knowledge“ (S. 41) – gemeint sind das sogenannte platonische und das sogenannte aristotelische Modell, Wissen zu klassifizieren – im 10. und 11. Jh. entwickelten und wie sie in Hss. dargestellt wurden. Grundlage ihrer Untersuchung sind bisher nicht beachtete Texte aus St. Gallen, wo die beiden Modelle zeitweise gar miteinander kombiniert wurden. Mariken Teeuwen (S. 91–113) konzentriert sich auf Hss. mit De nuptiis von Martianus Capella und fragt danach, welche Funktionen den Annotationen zukommen, mit denen dieser Text versehen wurde und die zumeist Referenzen auf antike und spätantike Werke enthalten. Darüber hinaus betrachtet sie die verschiedenen Arten von Annotationen genauer. Michael W. Herren (S. 115–153) nimmt Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den didaktischen Werken De nuptiis von Martianus Capella, den Epitomae und Epistolae von Virgilius Maro Grammaticus und der Cosmographia Aethici Istri in den Blick und fragt nach deren Rezipientenkreis sowie nach dem Ziel, das die Autoren mit ihren Werken jeweils verfolgten. David Ganz (S. 155–172) bietet einen instruktiven Überblick über die Funktionen und die Verbreitung von tironischen Noten im frühen MA und listet viele Hss. mit der Kurzschrift auf. Franck Cinatos (S. 173–200) Beitrag ist der Startpunkt für eine ganze Reihe von Aufsätzen, die sich mit Glossen und Glossaren beschäftigen. Er betont deren Wichtigkeit und betrachtet die Kompositionstechnik und das Verhältnis drei spezifischer Glossare untereinander und zu ihren Quellen. Patrizia Lendinara (S. 201–228) beschäftigt sich mit den zahlreichen Glossen zu Buch 3 der Bella Parisiacae urbis Abbos von Saint-Germain-des-Prés, die von diesem selbst verfasst wurden und einen integralen Bestandteil des Werks bilden. Sie beschreibt Abbos Glossierungstechnik und untersucht seine Quellen, wobei sie v. a. darauf aufmerksam macht, dass Abbo u. a. ein Glossar nutzte, das demjenigen in der Hs. Barcelona, Arxiu de la Corona d’Aragó, Ripoll 74, nahestand. Rosalind C. Love (S. 229–254) widmet sich den Hss. der Consolatio philosophiae des Boethius aus England, v. a. Canterbury und Abingdon, im 10. und 11. Jh. und geht auf die Quellen für die Glossen ein, die zumeist eine „Christological and moralising exegesis of the text“ (S. 245) bieten und in einer teilweise verwirrenden Fülle auftreten. Kees Dekker (S. 255–313) beschäftigt sich mit dem sogenannten Vocabularius Sancti Galli in der Hs. St. Gallen, Stiftsbibliothek, 913 (8. Jh.). Er stellt den Codex näher vor, der aus drei Teilen besteht und von einem Schreiber kopiert wurde, der wohl auch die verschiedenen Sammlungen kompiliert hat. Der Vf. betrachtet die Quellen und die Kompilationstechnik dieses Schreibers, der durch insulare und kontinentale Einflüsse geprägt war. Ein Anhang listet die Einzelbestandteile des Codex auf. Evina Stein (S. 315–356) stellt vier frühma. katechetische Sammlungen vor, die Auszüge aus den Etymologiae Isidors enthalten und an Priester gerichtet waren, wobei v. a. die Bücher 6–8 der Etymologiae rezipiert wurden. Sie hält fest, dass „no other Patristic author appears as frequently in Carolingian instructional collections and manuscripts for priests“ (S. 345). In einer Appendix listet sie die Hss. verschiedener katechetischer Sammlungen auf. John J. Contreni (S. 357–407) widmet sich intensiv der v. a. unter Rechtshistorikern nicht unbekannten Hs. Laon, Bibl. municipale, 265, die er als „instruction-reader“ bezeichnet, und stellt die insgesamt acht Teile der Hs. näher vor. Anschließend analysiert er die verschiedenen Annotationen, v. a. diejenigen des Martin von Laon. Im ersten Anhang listet er die Teile der Hs. samt den jeweils enthaltenen Texten auf, während er im zweiten eine ausführliche Beschreibung der Inhalte samt Kommentar bietet. Ildar Garipzanov (S. 409–438) beschäftigt sich mit „occult signs commonly referred to as caracteres“ (S. 409) und Monogrammen in Hss. des frühen MA und zeigt deren Entwicklung und soziale Implikationen auf. Der Gebrauch von caracteres war eigentlich nicht geduldet, sie wurden aber dennoch benutzt (v. a. in medizinischen Texten) und oftmals v. a. zu griechischen, aber auch lateinischen Buchstaben vereinfacht, die den frühma. Schreibern näher lagen. Andy Orchard (S. 439–466) fokussiert auf eine Sammlung von zwölf aenigmata – genannt Bibliotheca magnifica – in Cambridge, Univ. Library, Gg. 5. 35 (Mitte 11. Jh.), der bekannten Hs. der Carmina Cantabrigiensia. Er stellt die Hs. und v. a. die Sammlung der zwölf Gedichte eingehender vor, die stark von Isidors Etymologiae beeinflusst sind. Michael James Clarke (S. 467–492) verlässt das frühe MA und widmet sich den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus. Er analysiert exemplarisch die literarische Technik und die intertextuellen Bezüge bei „the depiction and interpretation of primeval giants“ (S. 468). Abschließend folgt ein kurzer Beitrag von Ciaran Arthur (S. 493–503), der die Ergebnisse des Bandes mit Fokus auf der Bedeutung der „practices of collectio and concealment“ (S. 500) einordnet. Das Buch endet mit einem sehr nützlichen Register der Hss. (S. 505–511) und einem allgemeinen Register (S. 513–523), das Personen, Orte, Quellentexte und Sachbegriffe vereint. Die Aufsätze seien jedem empfohlen, der sich für die Geistes- und Wissensgeschichte sowie die Hss.-Kultur des frühen MA interessiert.
D. T.