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Rebecca Schmalholz, Verdichtete Botschaften. Wie Gelehrte um Karl den Großen in Gedichten kommunizierten (Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft 13) Wien / Köln 2022, Böhlau Verlag, 408 S., Abb., ISBN 978-3-412-52478-4, EUR 75 (Open access: https://www.vr-elibrary.de/doi/pdf/10.7788/9783412524807). – Die an der Univ. Zürich entstandene Diss. will Gedichte aus dem Umfeld Karls des Großen als historische Quellen untersuchen, um Einblick „in die sozialen Realitäten, in die kommunikativen Muster, in die dichterische Praxis am karolingischen Königshof“ (S. 14) zu erlangen. In der Einführung (S. 11–49) werden neben einleitenden Bemerkungen zur Poesie im Umfeld Karls und Kurzporträts der behandelten Dichter auch Methodik und Begrifflichkeit der Arbeit vorgestellt, wobei dem Spiel-Begriff Johan Huizingas zentrale Bedeutung zugewiesen wird; es wird auch – leider in ungenügender Weise – die Frage nach dem Quellenwert der Gedichte angesprochen. Den Kern der Arbeit bildet ein Analysecorpus, das aus sechs eng an die Texte angelehnten Untersuchungen von Einzelgedichten oder Gedichtgruppen besteht. Zeitlich wird „der Untersuchungszeitraum bis ca. 800 beschränkt“ – wie Sch. einräumt, „eine arbeitstechnische und letztlich arbiträre Grenze“ (S. 41). In Brief- und Rätselgedichten von Paulus Diaconus und Petrus von Pisa (S. 53–108) wird die mehr oder weniger offen aufeinander bezogene Kommunikation der Autoren und die Interaktion ihrer literarischen Texte miteinander aufgezeigt, mit der u.a. die Etablierung einer „Spielgemeinschaft“ (S. 76) vollzogen und der von außen hinzukommende Paulus darin aufgenommen wird. Karl der Große (und im weiteren Sinn der gesamte karolingische Hof) ist dabei als unmittelbar angesprochener Adressat oder als mitzudenkender Rezipient jeweils fixer Bestandteil der Kommunikationssituation. Das „Einschreiben in ein Dichterspiel“ (S. 125) wird als Zweck der literarischen Kommunikation noch deutlicher greifbar in Alcuins Briefapostrophe Cartula, perge cito (carmen 4; MGH Poetae I S. 220–223), die vor Alcuins Zeit im Gelehrtenkreis um Karl (wohl zwischen 778 und 780) entstanden ist und in Reisestationen und Adressaten die intellektuelle Landschaft des Karolingerreichs in der ersten Phase von Karls Herrschaft skizziert (S. 109–126). In vier Figurengedichten von Alcuin, Iosephus Scottus und Theodulf von Orléans aus dem Codex Bern, Burgerbibl., 212, wird mit der visuellen Ebene der Wahrnehmung eine weitere Kommunikationsebene einbezogen (S. 127–176). Die hochkomplexen und höchst artifiziellen Text-Bild-Kunstwerke sind als historische Quelle allerdings weniger ergiebig und lassen bis auf gelegentliche Datierungs- oder Motivierungsfragen (so wird z.B. Alcuin, carmen 7 mit der dreifach wiederholten Anrede von Karl als Flavius Anicius Carlus zur Verlobung seiner Tochter Rotrud mit einem byzantinischen Prinzen in Beziehung gesetzt) nur sehr allgemeine Rückschlüsse auf die „Kommunikation der Gelehrtengesellschaft“ (S. 14) rund um Karl zu. (Die zur Verdeutlichung beigegebenen Abbildungen von Dümmlers Edition des carmen 3 von Iosephus Scottus [MGH Poetae I S. 153] auf S. 144 sowie des carmen 23 von Theodulf [MGH Poetae I S. 482] auf S. 152 zeigen jeweils eine falsche Seite.) Als Quelle wesentlich ergiebiger sind die Hofpanoramen Angilberts, Alcuins und Theodulfs (S. 177–277). Insbesondere carmen 25 und das dunkle, stellenweise kaum zu entschlüsselnde carmen 27 Theodulfs sind an Spott, Ironie, antik-literarischen und zeitgenössisch-lebensweltlichen Anspielungen reiche Gedichte, die sowohl Einblicke in Hof und Gelehrtenkreise um Karl ermöglichen als auch manche Mechanismen des „Dichterspiels und -streits“ (S. 276) sichtbar machen. Mangels Information bleibt allerdings gerade die Frage nach Ernst oder Spielcharakter der literarischen Invektiven hier ebenso offen wie in den beiden abschließenden Analysen einer Tierfabel Alcuins (carmen 49; S. 278–285) und seiner Bitte um Karls Beistand gegen Kritiker (carmen 42; S. 286–290). Nach einer Synthese der Untersuchungsergebnisse (S. 293–334) folgt ein Anhang, der neben Bibliographie (S. 337–349) und Registern (Textstellen, Namen von Personen und Figuren, Ortsnamen; S. 397–403) auch einen Textanhang (S. 350–396) umfasst, in dem alle besprochenen Gedichte mit Übersetzung geschlossen noch einmal abgedruckt werden. Diese Entscheidung ist an sich durchaus nachvollziehbar, hätte jedoch von Zurückhaltung an anderer Stelle begleitet sein sollen, da sie die ohnehin zur Redundanz neigende Arbeit unnötig weiter aufbläht. Denn alle Gedichte (jeweils mit Übersetzung) wurden jeweils bereits zu Beginn des Kapitels vollständig abgedruckt, in dem sie im Hauptteil besprochen werden, und bei der Besprechung werden sie dann in Obertext und Fußnoten wieder ausführlich zitiert, so dass eigentlich alle Stellen dreimal, manche auch vier- und fünfmal abgedruckt sind (vgl. z.B. S. 286, 288, 329, 396, wo jeweils die Verse 11–20 von Alcuins nur 22 Verse langem carmen 42 [MGH Poet. I S. 253f.] vollständig mit Übersetzung zu finden sind). Nicht nur in diesem Punkt, sondern auch in etlichen methodischen Schwächen, Ungeschicklichkeiten von Formulierung und Zitierung sowie redaktionellen Fehlern merkt man der Untersuchung den Charakter als (vielleicht zu schnell publizierte) Qualifikationsarbeit deutlich an. Dass mit ihr das letzte Wort zur teilweise schwer oder kaum verständlichen Dichtung im Umkreis Karls noch nicht gesprochen sein kann, soll zahlreiche Einzelbeobachtungen zu den untersuchten Gedichten, die beigegebenen Übersetzungen sowie den Versuch, einen Blick auf die hinter den Gedichten stehenden Kommunikationsstrukturen zu werfen, aber nicht in ihrem Wert mindern.

B. P.