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Gabriela Rojas Molina, Decoding Debate in the Venetian Senate. Short Stories of Crisis and Response on Albania (1392–1402) (The Medieval Mediterranean 134) Leiden / Boston 2022, Brill, X u. 256 S., Abb., ISBN 978-90-04-52051-6, EUR 140. – Diese Studie widmet sich dem Bestand der Deliberazioni, also der schriftlichen Überlieferung all jener Themen, die im Senat von Venedig diskutiert wurden, „the most crucial issues of the state“ (S. 9), und ihren sprachlich-formellen Details. Der kurze von R. M. gewählte Zeitabschnitt zwischen den „turning points in Venice’s history“ (S. 5) ist geprägt durch das besondere Engagement Venedigs in Albanien. Relevant wurde die Region aufgrund der zunehmenden osmanischen Präsenz, die den venezianischen Handelsinteressen zuwiderzulaufen drohte. Mit den wenigen einschlägigen Studien zum venezianischen Albanien, insbesondere mit denen Oliver Schmitts, geht die Vf. an mehreren Stellen äußerst hart ins Gericht. Ihm wirft sie etwa Fehlkategorisierungen sowie analytische Mängel vor („a bewildering analytical error“, S. 183, vgl. S. 65). Zwar beschränkt R. M. sich in thematischer Hinsicht weitgehend auf Venedigs Albanienpolitik, doch geht es ihr in erster Linie darum, am mikrohistorischen Beispiel aufzuzeigen, welche Subtexte zwischen den Zeilen der Senatsverhandlungen greifbar werden. Sie konzentriert sich auf Schlüsselwörter und besondere Formulierungen, rhetorische Mittel und stilistische Feinheiten, die zu dechiffrieren der bisherigen Forschung nicht gelungen sei, weil sie auf Inhalte statt auf die sprachliche Ausgestaltung fokussiert habe (S. 16). R. M. indes unterscheidet „two layers of information: a superficial layer of content … and the second, thus-far hidden layer of content created by scribal recording conventions“ (S. 20). In fünf Hauptkapiteln begibt R. M. sich mit ihrer linguistischen Lesart, methodologisch inspiriert von den Arbeiten Quentin Skinners und John Pococks, auf die Suche nach sprachlichen Markierungen in den ursprünglich freilich mündlichen Ratsdiskussionen, die die Jahrhunderte dank der Verschriftlichung durch die professionellen Schreiber überdauert haben. In den Mittelpunkt ihres Interesses stellt R. M. die vielfach von ihr beschworene Absicht der Schreiber, den „scribal intent“, und die Richtlinien und Kodierungen, die den Texten dieser Schreiber zugrunde liegen. Schreiber hätten im Sinne linguistischer Akte, so die Eingangsthese, bestimmte Formulierungen verwendet, um darin die Arkana des Rates, etwa besondere Dringlichkeitsstufen, zu verschlüsseln. Nur Eingeweihten sei es möglich gewesen, die tatsächliche Brisanz der behandelten Themen in ihrer schriftlichen Fixierung zu erkennen. R. M. will dadurch dem Mythos Venedigs auf den Grund gehen, der nicht zuletzt auf der Vorstellung basiere, dass die politischen Entscheidungen der Markusrepublik auf einhelligen Beschlüssen der Ratsmitglieder beruhten (S. 13). Die Deliberazioni hingegen sprechen eine andere Sprache. Sie dokumentieren und offenbaren Mehrheitsverhältnisse innerhalb des Gremiums für jede einzelne Entscheidung – eine Fundgrube der Dissens- und Konkurrenzforschung, wie sie für andere europäische Entscheidungsgremien erst für spätere Jahrhunderte vorliegt. Dieser Uneinigkeit, aber auch verschiedenen Kategorien von Wichtigkeit spürt die Vf. ‘zwischen den Zeilen’ nach, denn ihr zufolge trage jede sprachliche Abweichung vom Standardformular eine signifikante Bedeutung, anhand derer die im Senat behandelten Themen sich verschiedenen Dringlichkeitsstufen zuordnen ließen (S. 21). Sie klassifiziert 4.871 von ihr untersuchte Einträge anhand formaler und begrifflicher Eigenschaften und ordnet sie 14 verschiedenen Kategorien zu (S. 27–29). Die Verwendung der Begriffe nova bzw. novitates am Beginn der durchgängig lateinischen Texte etwa, von ihr so genannte „N-entries“, weise ihr zufolge nicht etwa auf den Erhalt von Neuigkeiten hin (sie ordnet sie dennoch der Kategorie der „newsworthiness“ zu), sondern, im Sinn einer ausgefeilten „language of urgency“ (S. 140), auf eine für den ‘Staat’ bedrohliche Krisensituation (S. 93). Auf solche Weise markierte Einträge, 57 an der Zahl, verlangten von den Senatoren unmittelbar zu ergreifende Maßnahmen, wie R. M. gebetsmühlenartig wiederholt (S. 93f., 101, 108, 127, 147), um ihre These zu zementieren und die vermeintlichen staatlichen Verschleierungsmechanismen aufzudecken (S. 94). Passt ein Eintrag nicht in ihr Raster, weil er zwar höchst brisante Inhalte enthält, aber nicht durch das angeblich obligatorische Schlagwort markiert ist (S. 101, 125, 126, 127f., 141, 166), weiß sie diese Abweichungen vom Befund ebenso kreativ zu erklären, wie sie es versteht, nova-Markierungen zu disqualifizieren, die gar keine Gefahr im Verzug andeuten und daher ebenfalls nicht in ihr Konzept passen („an unusual entry“, S. 110, vgl. auch S. 147). Ihre statistischen Berechnungsversuche sind mit Vorsicht zu genießen (S. 140), und auch an ihren Übersetzungen kommen Zweifel auf. Die lateinische Passage etwa de his uerbis et rationibus, et alijs übersetzt sie in ihr Gegenteil: „he must use these arguments …, not any others“ (S. 157; holprig auch S. 164 mit Anm. 38). R. M. sensibilisiert am Beispiel der venezianischen Deliberazioni für die „additional layers of meaning behind the information“ (S. 223), für die Zusammenhänge und Diskrepanzen von Sprache und Inhalt. Sie zeigt, dass das Material mehr enthält als die bloßen Beschlüsse, die am Ende der Diskussionen standen. R. M. untersucht den „tone of the response and how to phrase [it]“ (S. 201). Die Studie gibt somit an einem zeitlich, räumlich und thematisch eng bemessenen Beispiel wertvolle Einblicke in die filigranen Arbeits- und Entscheidungsprozesse der venezianischen Zentralbehörden. Sie präpariert die feinen Unterschiede heraus und zeigt, dass die Senatoren großen Wert auf die Außenwirkung ihrer Behörde legten, die Einhelligkeit ausstrahlen sollte, selbst wenn hinter verschlossenen Türen im Vorfeld intensiv gerungen worden war. Teilweise lassen die in der Schriftfassung verwendeten Formulierungen dies erahnen. Die Vf. scheint von diesen Beobachtungen allerdings derart begeistert worden zu sein, dass sie deren Interpretationsspielräume an der einen oder anderen Stelle überzustrapazieren droht und dem Material und seinen Formulierungen eine dubiose Systematik zugrunde legt. Letztlich gesteht sie sogar: „To add clarity, I risked over-emphasising those conventions I set out to describe“ (S. 225). Im Anschluss an den von ihr untersuchten Zeitraum, so konstatiert die Vf. ohne wirkliche Belege, hätten sich die ‘Mechanismen der Informationsklassifizierung’ verändert (S. 224–226), was einen Abgleich ihrer Diagnosen bzw. eine Verifizierung ihrer Thesen grundsätzlich erschwert. Sie sind dadurch kaum überprüf- und durch ihren kurzen Gültigkeitszeitraum auch nur schwer anwend- oder übertragbar, was wiederum die Anschlussfähigkeit der Ergebnisse schmälert. Die größte Schwäche der Arbeit liegt aber in dem Umstand, dass sie zwar die Schreiberintentionen in den Mittelpunkt stellt, auf die Schreiber selbst aber kaum eingeht. Offen bleibt auch, wie, durch welchen Filter und Kanal, der (selektive) Übergang vom gesprochenen Wort zur verklausulierten Schriftlichkeit der Einträge erfolgte. R. M. weiß darauf keine Antwort, und sie kann aufgrund der Quellenlage vermutlich keine kennen; problematisch ist aber vielmehr, dass sie gar nicht danach fragt bzw. sich nur am äußersten Rand ihrer Studie mit diesen für ihre These so grundlegenden Details befasst. Waren es wirklich die Schreiber, die derart essentielle Entscheidungen trafen, oder doch eher – im Sinne eines ‘speakers’ intent’ – die patrizischen Wortführer als politische Entscheider? Das Buch, das zugleich eine anschauliche Mikrogeschichte zu Albanien in der Übergangsdekade vom 14. zum 15. Jh. darstellt, lässt somit viele Fragen offen. Den Antworten, die es gibt, ist indes mit Vorsicht zu begegnen.

Andreas Flurschütz da Cruz