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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 81,1 (2025) *.

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Francesco Veronese, Reliquie in movimento. Politiche della mobilità e rappresentazioni agiografiche in epoca carolingia (VIII–X secolo) (Nuovi studi storici 127) Roma 2023, Istituto Storico Italiano per il Medio Evo, 633 S., 13 Karten, ISBN 978-88-31445-11-5, EUR 50. – Reliquien haben Konjunktur in der Mediävistik. Aus der Geschichte des Früh-MA sind sie schon deshalb nicht wegzudenken, weil die Berichte über Reliquientranslationen unverzichtbare Quellen für diese Epoche darstellen. Das auf V.s Paduaner und Pariser Diss. von 2012 basierende Buch verfolgt eine doppelte Fragestellung: Was sagen diese Quellen Neues über Politik, Kultur und Gesellschaft des Karolingerreichs (mit Ausblick auf die Ottonen)? Und warum entstand die hagiographische Textgattung ‘Translationsbericht’ gerade in der Karolingerzeit? Um dies zu beleuchten, unterzieht V. ausgewählte Translationsberichte (translationes – zu unterscheiden von den realen oder für real gehaltenen Translationsereignissen) einer akribischen Neulektüre. Nach einer gründlichen Darlegung des Forschungsstands in der Einleitung liegt der Schwerpunkt des langen ersten Kapitels (S. 31–172) auf der Gesetzgebung Karls des Großen zur Heiligenverehrung, von der Admonitio generalis bis zur Synode von Mainz 813. Gewiss keine unbekannten Quellen – doch lässt ein sorgfältiger Stellenvergleich das Neue an der karolingischen Heiligenpolitik noch deutlicher hervortreten als bisher: Reliquienbewegungen nur mit Genehmigung der Könige und Bischöfe und nur mit sicher bezeugten Heiligen aus der Vergangenheit, am besten römischen Märtyrern. Diese Kriterien bewirkten, dass die Reliquien reisen mussten, und damit entstand das hagiographische Genre der translatio. V. beschreibt an mehreren Beispielen (u. a. den Märtyrertranslationen nach Sachsen) zwei Varianten: Berichte über gesetzeskonforme Translationen – oft verbunden mit einer réécriture älterer passiones oder vitae – stehen neben dem Texttyp des furtum sacrum, dessen Begründer Einhard mit seinem Bericht (830/31) über den Raub der Reliquien der Märtyrer Marcellinus und Petrus in Rom war. Diesem ersten Durchgang folgen drei Fallstudien in jeweils etwa 100 Seiten starken Kapiteln. Sie zeigen zum einen, dass die karolingischen Normen unterschiedlich angewandt wurden; zum anderen stärken sie die Hauptthese des Buchs, nach der die translationes als Zeugnisse einer umfassend verstandenen ‘Mobilität’ und als „linguaggio“ gedeutet werden können, dessen sich die karolingische Elite bediente, um miteinander und mit den Herrschern (auch kritisch) zu kommunizieren. Die Fallstudien betreffen die Überführungen der Märtyrer Firmus und Rusticus aus Triest nach Verona (zweite Hälfte 8. Jh., translatio 810/20), der Märtyrer Genesius und Eugenius aus Jerusalem nach Treviso und ins Kloster Schienen (um 800, translatio geschrieben auf der Reichenau nach 830) sowie des Evangelisten Markus, der 829 aus Alexandria nach Venedig geholt wurde (so die Venezianer), von dort aber rasch auf die Reichenau geschafft wurde; dies behauptet eine Reichenauer translatio, die wahrscheinlich gegen Ende des 10. Jh. (unter Otto III.) verfasst wurde – etwa zeitgleich mit der bekannteren Venezianer Translatio s. Marci. V. schreibt gut, greift aber zu oft auf das Wort „identitario“ zurück (insistent in Kap. 2), das im Italienischen zwar noch nicht so rettungslos politisiert ist wie das deutsche „identitär“, aber ebenfalls dazu tendiert. Da es terminologisch nichts einbringt, sollte man darauf verzichten. Das Buch zeichnet sich durch eine genaue Quellenlektüre aus. Durch die Untersuchung der Hss. trägt V. Neues zur Datierung und Zirkulation der Texte bei. Kein Aspekt wird ausgelassen, die Forschung umfassend rezipiert: auch die neuere und ältere deutsche Forschung, was selbst bei einem solchen Thema nicht selbstverständlich ist. Man erfährt unendlich viel über karolingische Reformen und correctio, über Venedig und das Veneto, über Aquileia, Grado und den Dreikapitelstreit, Verona und die Versus de Verona, italienische Bischöfe alamannischer Herkunft, den Übergang von den Langobarden zu Karl dem Großen, karolingische Männlichkeitskonzepte usw. V. macht viele kluge Beobachtungen, doch sein horror vacui hat einen Preis: In engen Spiralen kommt die Argumentation wieder und wieder auf das Gleiche zurück, riskiert dadurch Zirkelschlüsse (die Translationsberichte erklären den historischen Kontext, der die Berichte erklärt). Es fällt ihm sichtlich schwer, ein Ende zu finden. Auch das Schlusskapitel macht nicht wirklich Schluss, sondern stellt ein weiteres Beispiel vor, das zeigt, wie man Reliquien in der Mitte des 9. Jh. nicht behandeln sollte. Dann folgt noch ein Anhang mit Neueditionen zweier Translationsberichte (Genesius und Markus) nach Reichenauer Hss., wobei allerdings der Zugewinn gegenüber den älteren Editionen nicht ersichtlich wird. Doch trotz oder gerade wegen dieser Ausführlichkeit lautet das Fazit: ein Buch, aus dem sich eine Menge über die Karolingerzeit lernen lässt.

Thomas Frank