Rethinking the Carolingian reforms, ed. by Arthur Westwell / Ingrid Rembold / Carine van Rhijn, Manchester 2023, Manchester Univ. Press, X u. 280 S., Abb., Tab., ISBN 978-1-5261-4955-8, GBP 90. – Der Sammelband vereint neben einer Einleitung sechs Beiträge. Direkt zu Beginn der Einleitung (S. 1–31) macht Carine van Rhijn zu Recht deutlich, dass das Verständnis der sogenannten karolingischen Reformen nicht mehr nur von den Eliten her gedacht, sondern dass eine breitere Schicht von Akteuren einbezogen werden sollte, v. a. auch auf Grundlage der Hss., die heutzutage in noch nie gekanntem Ausmaß v. a. digital eingesehen werden können. Sie fragt danach, „what exactly we mean by Carolingian reform or correctio“ (S. 2). Der Hauptantrieb war das Bestreben, alle Menschen zum Heil zu führen, wofür Bildung maßgeblich war. Die Wissenschaft hat für diese sogenannten Reformbemühungen unterschiedliche Begriffe und Konzepte entwickelt, die die Vf. ebenfalls zu Recht als zu oft unreflektiert gebraucht und durch fast 200 Jahre Forschungsgeschichte belastet bezeichnet (S. 6f.). Nach einer informativen Darstellung zur Problematik der Begriffe „Reform“, „Renaissance“ und correctio und zur Forschungsgeschichte plädiert sie nochmals dafür, stärker auf die vielen Akteure unterhalb der Elite zu fokussieren und neben den vertikalen auch die horizontalen Wissensnetzwerke zu berücksichtigen. Dem ist vollumfänglich zuzustimmen, allerdings werden nach Geschmack des Rez. zum einen ein wenig zu oft die „top-down processes“ (S. 23) betont, welche die Forschung so lange hauptsächlich im Blick gehabt habe, und zum anderen behandeln die folgenden Beiträge mehrheitlich herausragende Persönlichkeiten eben jener Elite. Ingrid Rembold (S. 32–64) beschäftigt sich mit der Rolle von Gender in den karolingischen Vorstellungen von regelgeleitetem religiösen Leben. Dabei stellt sich heraus, dass bei Männern klar zwischen Mönchen und Kanonikern unterschieden wurde, während dies bei Frauen nicht der Fall war. Männer und Frauen wurden getrennt wahrgenommen und auch im klaren Bewusstsein eines Unterschieds reglementiert, so z. B. in Bezug auf die Strenge der Klausur oder die Partizipation an Versammlungen – in beiden Punkten verfuhr man mit Frauen wesentlich strenger. Stephen Ling (S. 65–95) betrachtet ebenfalls religiöse Gemeinschaften, und zwar solche von Kanonikern, v. a. in Bezug auf die Regel Chrodegangs von Metz und dessen Bemühungen um die rechte Lebensweise des Kathedralklerus, die monastisch geprägt sein konnte. Chrodegangs Regel wurde von anderen Bischöfen genutzt, um ihren Einfluss auf den Klerus zu festigen, ohne sie dabei aber immer in Gänze zu befolgen. Daneben gab es auch andere Versuche, das Leben des Kathedralklerus zu regulieren, wobei sich kanonikale und monastische Elemente vermischen konnten. Cinzia Grifoni / Giorgia Vocino (S. 96–140) nehmen das didaktische Werk Alkuins in den Blick, das aus mehreren Traktaten besteht, die allerdings nie zusammen überliefert sind. Sie bildeten zwar nie ein kohärentes Bildungsprogramm, wurden aber dennoch breit rezipiert, was die Vf. an konkreten Hss. aufzeigen. Aufgrund einer fest verankerten Bildungstradition in Italien wurden Alkuins Schriften dort kaum bzw. erst in nachkarolingischer Zeit wahrgenommen, v. a. durch Verbindungen zu Auxerre. Letztlich fußte die Rezeption von Alkuins pädagogischen Schriften auf persönlichen Netzwerken, die mit Alkuin oder seinen Schülern in Verbindung standen. Dass Alkuins Ideen aufgenommen, aber den jeweiligen lokalen Kontexten angepasst und weiterentwickelt wurden, zeigt das Kloster Wissembourg unter Otfried, wo keine Hss. mit Alkuins didaktischem Werk erhalten sind. Eine Appendix bietet die englische Übersetzung von neun Gedichten aus der Hs. Wolfenbüttel, Herzog August Bibl., 77 Weiss. Els Rose / Arthur Westwell (S. 141–175) fragen, wie sich die Zeitgenossen um die liturgische Sprache und die praktische Umsetzung der Liturgie bemühten. Sie treten der Idee einer von oben verordneten Liturgiereform entgegen, indem sie zwei expositiones, „commentaries on liturgical practice and language“ (S. 142), untersuchen (Dominus vobiscum und Buch 3 des Liber officialis Amalarius’ von Metz). Dominus vobiscum möchte durch etymologische Erläuterungen und durch Erklärungen mittels Synonymen und Paraphrasen ein klareres Verständnis des Ritus und der Texte erreichen. Amalarius war es wichtig, nicht eine uniformierte Liturgie zu schaffen, sondern jedem – Klerus und Laien – Teilhabe zu ermöglichen, damit er davon profitieren konnte. Beobachten lässt sich dies in beiden Fällen auch an der Sprache, die Varianz durchaus zuließ. Irene van Renswoude (S. 176–206) untersucht anhand von Amalarius von Metz und Johannes Scottus Eriugena, wie man von der Norm divergierende Interpretationen aufnahm und verarbeitete und ob und wie man sie richtigstellte. Dabei nimmt sie auch die Arbeitsweise der beteiligten Personen und die sprachliche Umsetzung dieser Auseinandersetzungen in den Blick. Von correctio wird in den betrachteten Fällen nur im Zusammenhang mit Individuen gesprochen, und es gab keine etablierten Wege, wie man mit divergierenden Meinungen und der Scheidung von Wahr und Falsch umging. Kristina Mitalaité (S. 207–240) beschäftigt sich mit der individuellen reformatio und renovatio in exegetischen Kommentaren und der correctio im Kontext theologischer Kontroversen unter Karl dem Großen. Es zeigt sich, dass die karolingischen Theologen zwar grundlegend aus demselben Pool von Texten und Ideen schöpften, aber zu jeweils individuellen Ansichten und Schwerpunktsetzungen kamen. Im Mittelpunkt stand immer „the idea of reformatio as self-perfection“ (S. 225), die zum persönlichen Heil führe. Daneben zeigen die theologischen Kontroversen, „that there was no attempt to establish a theological unity, and hence to reform, improve or correct Carolingian theological thought“ (S. 236). Es folgt die Bibliographie (S. 241–275), in die Listen der Hss. (es gibt leider kein Register der Hss.) und der Internetressourcen integriert sind. Daran schließt sich ein kurzes Register (S. 277–280) an, das Namen, Orte, Quellen und einige Sachbegriffe vereint. Der anregende Sammelband sei jedem empfohlen, der sich mit der konkreten Ausgestaltung zentraler Begriffe wie Reform oder correctio in der Karolingerzeit beschäftigen möchte, auch wenn die Beiträge nicht immer Neues bieten.
D. T.