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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 80,2 (2024) *.

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Living on the Edge. Transgression, Exclusion, and Persecution in the Middle Ages, ed. by Delfi I. Nieto-Isabel / Laura Miquel Milian (Studies in Medieval and Early Modern Culture 83) Berlin / Boston 2022, De Gruyter, X u. 279 S., Abb., ISBN 978-1-5015-2111-9, EUR 104,95. – Das Sammelwerk, das auf eine Tagung im Jahr 2017 an der Univ. von Barcelona zurückgeht, verbindet die ältere Tradition mediävistischer Randgruppen- und Devianzforschung mit modernen Ansätzen um die Konzepte Alterität, Othering und Agency. In ihrer ausgezeichneten Einleitung (S. 3–19) bietet die Hg. N.-I. einen lehrreichen Blick auf den Umgang westeuropäischer Gesellschaften des MA mit sozialer Transgression und religiöser Heterodoxie sowie theoretisch fundierte Überlegungen zu neuen Perspektivierungen marginalisierter Existenz in der Vormoderne. N.-I. betont, dass die Grenzen zwischen dem Innen und Außen sozialer Systeme fluide waren und einem kontinuierlichen Aushandlungsprozess unterlagen. Zu untersuchen wäre demnach, unter welchen Umständen akzeptierte und mitunter gar wertgeschätzte Andersartigkeit in Exklusion umschlug. Gegen ältere Forschungen betont N.-I. außerdem die Handlungsmacht, über die marginalisierte Personen und Gruppen durchaus verfügen konnten und die sie in Reaktion auf Ausgrenzungserfahrungen bisweilen zur „Co-Construction“ ihrer eigenen Andersartigkeit eingesetzt hätten. Die zwölf Fallstudien, die der Band versammelt, konzentrieren sich auf den mediterranen und westeuropäischen Raum zwischen Spätantike und Spät-MA. Der erste Teil (The Fundamental Edge) nimmt Formen weiblicher Randständigkeit in den Blick. Eröffnet wird er von einer vielschichtigen und klugen Analyse der Vida der heiligen Douceline von Digne, deren vorrangige Funktion Sergi Sancho Fibla (S. 23–57) in der Stiftung einer Identität für die bedrohten südfranzösischen Beginengemeinschaften sieht. Courtney A. Krolikoski (S. 59–74) widmet sich dem Umgang von als heilig verehrten Frauen königlicher Abstammung mit Leprakranken im Spiegel der Hagiographie des 12. und 13. Jh. Das Interesse Mireia Comas-Vias (S. 75–91) gilt dem sozialen und wirtschaftlichen Status von Witwen im spätma. Barcelona, wobei sie interessante Beobachtungen zur Intersektion von Familienstand, Armut, Alter und Fremdheit anstellt. Daran schließt Laura Cayrol-Bernardos (S. 93–115) kunstgeschichtlicher Beitrag über die Darstellung älterer Frauen im 13. und 14. Jh. an. Der zweite Teil (The Religious Edge) rückt sodann religiöse Heterodoxie und ihre Verfolgung in den Fokus. In einem geschickten Kunstgriff verbindet Rachel Ernst (S. 119–140) Überlegungen zur aktuellen Debatte über die historische Authentizität der Katharer-Bewegung mit der Frage nach Fakt und Fiktion der Darstellung sexuell-religiöser Praktiken in manichäischen Kreisen bei Augustinus. Die ikonographische Entwicklung der Himmelfahrt Christi im Kontext des sogenannten Arianischen Streits im 4. Jh. untersucht Marta Fernández Lahosa (S. 141–158). Stamatia Noutsou (S. 159–176) überprüft die Schriften der Zisterzienser Bernhard von Clairvaux und Gottfried von Auxerre auf ihre Einstellung zur Frage der gewaltsamen Unterdrückung von Heterodoxien, muss aber eingestehen, dass eine „categorical answer“ (S. 176) kaum möglich ist. Identitätskonstruktionen aragonesischer Juden durch Abgrenzung zum Christentum in der Pogromstimmung des späten 14. Jh. schließlich spürt Jordi Casals i Parés (S. 177–197) nach. Am Beginn des dritten Teils (The Edge of Society) stehen mit Ivan Armenteros-Martínez (S. 201–220) über die soziale Agency versklavter Menschen im ma. Mediterraneum sowie Anna M. Petersons (S. 221–236) Dekonstruktion traditioneller Forschungspositionen zum sozialen Ausschluss von Leprosen zwei Arbeiten, die sich auf klassischen Feldern der Randgruppenforschung bewegen. Während Angana Moitra (S. 237–250) zum Exil in der Versnovelle Sir Orfeo in dieser Hinsicht etwas aus dem Rahmen fällt, widmet sich Estela Estévez Benitéz (S. 251–266) im abschließenden Beitrag über Darstellungen von monstra in illuminierten Hss. einem Thema, das sich wie kein zweites für Annäherungen an die komplexe Dialektik von Inklusion und Exklusion im MA anbietet. Dafür gibt der facettenreiche Band, der sich als kleines Juwel entpuppt, zahlreiche wertvolle Anstöße. 

Christian Hoffarth