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Dalibor Havel, Die lateinische Schriftkultur in den böhmischen Ländern bis zum 12. Jahrhundert. Handschriften, Fragmente und Skriptoria (AfD Beiheft 20) Wien / Köln 2022, Böhlau, 607 S., Abb., ISBN 978-3-412-52524-8, EUR 99. – Aufbauend auf seiner 2014 an der Philosophischen Fakultät der Masaryk-Univ. in Brünn angenommenen Habil.-Schrift publizierte der Vf. 2018 zunächst auf Tschechisch eine Studie zur frühen Schriftkultur in den böhmischen Ländern (vgl. DA 75, 250f.), die nunmehr in einer erweiterten Fassung auf Deutsch vorgelegt wird. Ziel ist eine umfassende Untersuchung des frühen Schrift- und Buchwesens im genannten Gebiet von den ersten belegbaren Anfängen bis ins 12. Jh. Der Untertitel deutet schon an, wie der Vf. hierbei vorgeht. Nach einer Einleitung zu Forschungsstand, Methode und Quellenbasis (S. 11–24) folgen in Kapitel II (S. 25–65) zunächst allgemeine „Entwicklungsaspekte der lateinischen Schrift im 9. bis 12. Jahrhundert“. Dies ist insofern etwas irreführend, als der Vf. tatsächlich schon deutlich früher mit der Schriftentwicklung in den westfränkischen Skriptorien ein- und sich so auch der Gefahr aussetzt, hinsichtlich der Rezeption der (hierzu sehr umfangreichen) Literatur nicht immer auf dem neuesten Stand zu sein – in der Tat fehlen etwa ganz grundlegende zuletzt erschienene Paläographie-Handbücher wie jenes von Frank T. Coulson und Robert G. Babcock (Oxford Handbook of Latin Palaeography, 2020) und Paolo Cherubinis und Alessandro Pratesis Paleografia latina (2010, vgl. DA 68, 694f.), auch vermisst man etwa die neueren Publikationen zu St. Gallen. Diese Defizite werden allerdings in der Folge kaum wirksam, weil sie für das eigentliche Thema kaum eine Rolle spielen (und der Vf. deswegen wohl auch gut beraten gewesen wäre, auf die Zeit vor 800 zu verzichten). Mit dem umfangreichen Kapitel III (Die Anfänge der lateinischen Schriftkultur in Böhmen und Mähren, S. 66–433) setzt die eigentliche Studie ein. Kern ist hier ein langer „Katalog der Handschriftenfragmente“ (Kap. III.2, S. 87–400), der in insgesamt 216 Nummern ca. ein Drittel der heute in böhmischen und mährischen Sammlungen liegenden Fragmente aus der fraglichen Zeit präsentiert (S. 550; nicht ganz erschließt sich, warum überhaupt eine Auswahl getroffen wurde und nach welchen Kriterien – so wäre es eine Überlegung wert gewesen, sich nur auf einen einschlägigen Fragmente-Katalog zu beschränken und dafür alle Fragmente zu erfassen). Der Vf. versucht hier, Entstehungszeit und -ort der nur mehr in diesen Resten greifbaren Schriftzeugnisse zu eruieren und für jene (bei weitem die Mehrzahl der Fälle ausmachenden) Hss., die nicht auf böhmischem Gebiet entstanden, festzustellen, ab wann sie hier greifbar sind und somit das böhmische Schriftwesen beeinflusst haben können. Das tatsächlich in Böhmen geschriebene Material wird anschließend in Kapitel IV (Die ältesten Schreibschulen in Böhmen und Mähren, S. 434–549) untersucht. Als ältestes Zentrum der böhmischen Schriftkultur kann der Vf. für die erste Hälfte des 11. Jh. den Umkreis des kurz zuvor gegründeten Prager Bistums bzw. dessen Kapitels festmachen, will aber aufgrund der schütteren Belege und unterschiedlichen Charakteristiken der wenigen bezeugten Hände noch von keinem Skriptorium im eigentlichen Sinn sprechen. Ein solches existierte offenbar erst ab der Mitte des 11. Jh. im Benediktinerkloster Břevnov, das somit als das älteste Skriptorium in den böhmischen Ländern gelten kann. Für die 1130er und 1140er Jahre ist ein weiteres klösterliches Skriptorium in Hradisko (Hradisch) bei Olmütz nachweisbar, während sich der Vf. für die in einem Exkurs behandelte Benediktinerabtei Ostrov gegen die (in der Literatur teils vertretene) Annahme eines Skriptoriums im 11. Jh. ausspricht. Wer auch immer sich mit Fragestellungen, die vor allem auf eine im wahrsten Sinne des Wortes fragmentarische Quellenbasis abzielen, beschäftigt hat, weiß, wie schwierig es ist, eine solche paläographisch-kodikologische Untersuchung sauber durchzuführen und dennoch zu halbwegs verlässlichen Ergebnissen zu kommen. Im Fall der vorliegenden Publikation liegt das Verdienst trotz der teils vorhandenen Defizite ganz sicher auch darin, dass der einschlägigen des Tschechischen nicht mächtigen Forschung die Ergebnisse der betreffenden Forschungsliteratur sehr gut zugänglich gemacht werden.

M. W.