Le pouvoir des listes au Moyen Âge III: Listes, temps, espace, sous la direction de Éléonore Andrieu / Pierre Chastang / Fabrice Delivré / Joseph Morsel / Valérie Theis (Histoire ancienne et médiévale 191) Paris 2023, Éditions de la Sorbonne, 458 S., Abb., ISBN 979-10-351-0866-3, EUR 22. – Die Liste als Textgattung und als Kulturtechnik steht im Mittelpunkt der Arbeit des französischen ANR-Forschungsprojekts POLIMA (Le Pouvoir des Listes au Moyen Âge), das mit dem Sammelband bereits seine dritte Publikation vorlegt: Während sich die ersten beiden Bände mit dem Produktionsprozess sowie Objekten und Personen als Gegenstand von Listen beschäftigt haben, fragt der dritte, sichtlich beeinflusst durch den ‘spatial turn’ in den Kulturwissenschaften und in expliziter Anlehnung an Jack Goody (The Domestication of the Savage Mind, 1977), nach den Wechselwirkungen zwischen den kulturellen Größen ‘Raum’ und ‘Zeit’ und der Text- und Schriftgutgattung der Liste. Unter den nicht allzu aussagekräftigen Kategorien „Rejeux“, „Reconnaissances“ und „Re-présentations“, die jedoch durchaus einer inneren Logik folgen (Éléonore Andrieu / Fabrice Delivré / Joseph Morsel / Valérie Theis, S. 5–22), versammelt der Tagungsband 13 ausschließlich französischsprachige Beiträge. Diese konzentrieren sich zum einen auf Listen, die die Geographie und Topographie ihrer näheren und ferneren Umwelt erfassbar, begrenzbar und beherrschbar machen wollen: Dies reicht von der Welt als Ganzer in geographischen Listen (Nathalie Bouloux, S. 51–74) über Ausdehnung und Grenzräume der Christianitas in kurialen Zins- und Provinzlisten oder in Chroniken und Chansons de geste (Valérie Theis, S. 75–105; Éléonore Andrieu, S. 357–399) und einzelne weltliche oder geistliche Grundherrschaften (Joseph Morsel, S. 209–247 mit Edition; Uta Kleine, S. 249–291) bis hin zu städtischer Sozial-, Besitz- und Herrschaftstopographie (Pierre Chastang, S. 153–186). Zum anderen stehen Listen im Mittelpunkt, die Vergangenheit und Zukunft mit der Gegenwart zu verknüpfen versuchen, wobei memoriale und eschatologische Aspekte hineinspielen: Hierzu gehören die Adaptionen der biblischen Genealogien in ma. Bibelübersetzungen (Francis Gingras, S. 25–49), bildliche Heiligen-‘Listen’ (Cécile Voyer, S. 295–310), die Verzeichnung vergangener und zukünftiger Kirchenschismen (Fabrice Delivré, S. 107–149), wie auch der Umgang mit Geburt und Tod in Nekrologien und Familienbüchern, wobei bei diesen eine administrative Funktion hinzukommt (Anne Chiama, S. 311–332; Franz-Josef Arlinghaus, S. 333–355). Dies gilt auch für die Pariser Gefangenenlisten, die Julie Claustre (S. 187–207) untersucht, während die zahlreichen Auflistungen in den Versen des Dichters Niccolò di Michele Bonaiuti im Beitrag von Jean-Yves Tilliette (S. 401–429 mit Edition) eine eher historisch-belehrende Funktion erkennen lassen. Eine Zusammenfassung von Florian Mazel (S. 433–449), der die Beiträge auf der Grundlage ihrer Ergebnisse noch einmal neu klassifiziert, rundet das Ensemble ab. Auf ein Register wurde verzichtet, was angesichts der Zusammenstellung der Themen aber verschmerzbar ist. Trotz der sehr breit gefächerten Beitragsgegenstände wird der Sammelband durch ein Core Set an Grundgedanken strukturiert und zusammengehalten, die in der klugen Einleitung der Hg. dargelegt werden. Dies ist primär die Idee des nur schwer ins Deutsche übersetzbaren „rejeu“: die Wiederaufbereitung vorhandener Wissensbestände, oftmals bereits in Listenform vorliegend, die für neue soziale Praktiken aktualisiert werden – eine Praxis, die vielleicht jeder Anlage von Listen bereits inhärent war (S. 19). Dieser Umgang verweist auf ein ma. Verständnis von Zeit, das nicht linear oder zyklisch, sondern iterativ angelegt war (S. 15) und das die Kategorien Raum und Zeit auch nicht zwingend trennte (S. 16). In der Zusammenführung solcher großen theoretischen Überlegungen mit dem Phänomen der Liste in ihrer kleinteiligen, oft pragmatischen Form liegt der eigentliche Gewinn der Publikation.
Christina Abel