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Lieux et espaces des communautés (VIème–XIème siècles), éd. par Geneviève Bührer-Thierry / Maria Cristina La Rocca, Reti Medievali Rivista 24,2 (2023) S. 125–313: Die Sektion „Saggi in Sezione monografica“ veröffentlicht sechs Beiträge des fünften thematischen Teils des Gesamtprojekts „À la recherche des communautés du haut Moyen Âge: formes, pratiques, interactions (VIe–XIe siècles)“, das als fünfjähriges Projekt von 2018 bis 2022 an der École Française de Rome angesiedelt war. – Geneviève Bührer-Thierry / Maria Cristina La Rocca, Lieux et espaces des communautés. Introduction (S. 125–135), unterstreichen die Bedeutung von Orten und Räumen für die Funktion und Existenz von communitates im Früh-MA, weisen auf die Quellenproblematik und die komplexe Methodologie hin und stellen die Beiträge kurz vor. – Michel Lauwers, Des „communautés de village“ dans le haut Moyen Âge? Un retournement historiographique (S. 137–157), schildert einen Paradigmenwechsel in der Historiographie: Während im 19. und zu Beginn des 20. Jh. die „Dorfgemeinschaft“ in der verfassungsgeschichtlichen Forschung stark präsent war, wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jh. die Ausbildung von communitates inhabitatorum als räumliches und soziales Phänomen im Zusammenhang der kommunalen und signorilen Stadtherrschaft, also in der zweiten Hälfte des MA definiert. Erst in jüngerer Zeit, begünstigt auch durch verstärkte archäologische Forschung, wird das Siedlungssystem wieder über die gesamte Phase des MA untersucht. – Ian Wood, Changing Spaces: the Evidence of Vienne (S. 159–177), erläutert am Fallbespiel von Vienne die Transformation einer römischen Provinzstadt in eine frühma. Bischofsstadt, also die Möglichkeit eines Funktionswandels bestehender räumlicher, städtischer Strukturen. – Émilie Kurdziel, Les communautés cléricales urbaines et leurs lieux. L’exemple des canonicae italiennes (840’s–1040’s) (S. 179–207), kann am Beispiel der canonicae in Städten des Regnum Italicum (Modena, Reggio Emilia, Bergamo, Arezzo etc.) vom 9. bis zum 11. Jh. aufzeigen, wie diese seit der Institutio canonicorum (816) verbreitete Einrichtung, die sich in der Regel mit einem claustrum an monastischen Formen orientierte, über angeschlossene Gebäude, wie schola, hospitium, xenodochium etc., auch entscheidend ins städtische Leben ausstrahlte. – Michel Lauwers, Polarisation ecclésiale et dynamique sociale. À propos des groupes d’habitants dans le haut Moyen Âge (S. 209–236), hebt (anhand zahlreicher, vorwiegend französischer Beispiele) die Bedeutung der MA-Archäologie für Aussagen zur Entwicklung ländlicher Gemeinschaften hervor. Einen wichtigen Ausgangspunkt bildeten landwirtschaftliche oder handwerkliche Produktionsgemeinschaften, die zu gemeinschaftlicher Ansiedelung und zur Organisation von Landflächen, Wegenetzen oder Be- und Entwässerungsgräben führen konnten. Speicherstrukturen z.B. für Getreide konnten eine cohabitatio unterstützen. Eine wichtige Rolle kommt einer Landkirche mit zugehörigem Begräbnisplatz zu, die freilich durchaus auch außerhalb der eigentlichen Siedlung liegen konnte. – Wendy Davies, Where Were Court Cases Heard in Northern Iberia in the Early Middle Ages and Were These Community Places? (S. 237–252), widmet sich der lokalen Rechtsprechung auf der Iberischen Halbinsel im Früh-MA. Die Versammlungen waren nicht an Gemeinschaftsplätze gebunden. Allerdings konstituierten sich gleichzeitig kirchliche Räume in dieser Funktion. – Claire de Cazanove-Hannecart, Mobiliser sa communauté dans le pôle épiscopal de Freising entre 739 et 784. Réflexion à partir des eschatocoles du cartulaire (S. 253–273), untersucht die Zeugenlisten des sogenannten „Cozroh-Codex“ (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Hochstift Freising Archiv 1) mit den Methoden der Netzwerkanalyse. Im Mittelpunkt stehen dabei die Fragen nach der Teilhabe der „Zeugen“ am jeweiligen Rechtsakt und nach der eventuellen Möglichkeit, eine – vielleicht sogar geographisch verortbare – communitas zu erkennen. Es wird deutlich, dass sich gerade unter Arbeo, schon in seiner Zeit als scriptor in Freising und verstärkt nach seiner Einsetzung als Bischof 764, die Herausbildung einer klarer identifizierten Gruppe von überwiegend Klerikern, aber auch einigen Laien im engen Umfeld des Bischofs erkennen lässt, wobei die Bedeutung der Kleriker zunimmt. – Giovanna Bianchi, Comunità costiere tra forme di potere e ambienti „ostili“ nella Toscana altomedievale. Un caso di studio tra „polarizzazione“ e „nucleazione“ (S. 275–313), kann mit detaillierter Auswertung einer langjährigen Forschungskampagne der Univ. degli Studi di Siena in Vetricella (GR) an einem Fallbeispiel die komplexen Faktoren der Ausbildung einer Kommunität im Früh-MA dokumentieren: In gewisser Kontinuität zur Antike setzte sich im Küstengebiet der Toskana die Metallverarbeitung fort. Entsprechend konzentrierte sich die Bevölkerung in der Nähe der Produktionsstätten, flankiert von einer frühma. curtis regia. Gleichzeitig lassen sich Maßnahmen zur Organisation der landwirtschaftlichen Versorgung und rudimentäre Siedlungsstrukturen erkennen. Während eine gewisse Kontinuität zwischen Antike und Früh-MA besteht, ist ein klarer Bruch zwischen dem 11. und dem 12. Jh. erkennbar.

Thomas Hofmann