Maestro Bernardo, Rationes dictandi. Edizione critica a cura di Elisabetta Bartoli (Edizione nazionale dei testi mediolatini d’Italia 66 – serie 1,34) Firenze 2023, SISMEL – Edizioni del Galluzzo, VII u. 289 S., ISBN 978-88-9290-220-6, EUR 66. – Die schöne Ausgabe des ars dictaminis-Traktats Rationes dictandi, eines Jugendwerks des Magisters Bernardinus/Bernardus, der in den Jahren 1138–1155 in Mittel- und Norditalien (östliche Toskana, Emilia-Romagna) tätig war, leistet einen wichtigen Beitrag zum Wissen über die Entwicklung der ars dictaminis im ersten Jahrhundert ihres Bestehens. Sie folgt auf die ebenfalls von B. verfasste Ausgabe der Introductiones prosaici dictaminis von Bernardus (2019, vgl. DA 78, 294f.) und kann auch mit der Edition der Traktate und Briefsammlungen von Bernardos Schüler Magister Guido in Verbindung gebracht werden, die ebenfalls von B. herausgegeben wurde (2014, vgl. DA 72, 261f.). Mit dem sukzessiven Erscheinen dieser drei Bände wird unser Wissen über die dritte Generation der Meister der ars dictaminis (1130–1160) erheblich verbessert. Nach anfänglichen Verwirrungen aufgrund der Versuchung, den Namen Bernardus mit berühmten Gelehrten des 12. Jh. in Verbindung zu bringen (Bernhard von Clairvaux, Bernardus Silvestris), waren es vor allem Monika Klaes, Anne-Marie Turcan-Verkerk und B., die das (noch unsichere) Profil von Meister Bernardus, dem produktiven Autor einer Vielzahl von theoretischen und theoretisch-praktischen Traktaten, von denen einige einst teilweise Alberico di Monte Cassino zugeschrieben wurden, rekonstruiert und sein Werk analysiert haben. Das Hauptinteresse der neuen Gesamtausgabe der Rationes dictandi, die die frühere Teilausgabe (erstes Buch) von Ludwig Rockinger ersetzt, besteht darin, der Forschung einen zuverlässigen Text eines von Bernardus geschaffenen frühen Traktats zu liefern, der viele der in den verschiedenen Versionen seiner Summa und im Liber artis omnium dictaminum enthaltenen Neuerungen vorwegnimmt. Wie die sehr klare Einleitung (S. 3–57) zeigt, werden viele Elemente, die in den Rationes keimen oder bereits entwickelt sind, in den anderen Werken Bernards wieder aufgegriffen, insbesondere die Sammlungen von Exordia. Auch wenn die ausführlicher beschriebenen Debatten (S. 3–12) über die Persönlichkeit, die Karriere und das Tätigkeitsfeld des Meisters Bernardus mangels expliziter exogener Quellen nicht abgeschlossen sind, wirft die Analyse und Edition des Traktats, der vollständig allein in der Hs. München, Bayerische Staatsbibl., Clm 14784 (Mitte 12. Jh., drei weitere Hss. enthalten nur Auszüge), enthalten ist, dagegen ein helles Licht auf die Ideen des Meisters um die Anfänge seiner Karriere (ca. 1138–1143). Nach einem Abschnitt über Hypothesen zu den Beziehungen zwischen den hsl. Zeugen (S. 63–72) und der Bibliographie (S. 73–87) folgt die eigentliche Ausgabe der zwei Bücher (S. 89–274), der noch Indices folgen (S. 275–289). Nach der Definition des Dictamen widmet sich Buch I hauptsächlich den partes epistolae (wobei zum ersten Mal die Theorie der fünf partes vorgestellt wird). Buch II (S. 171–274) geht auf die Details der Komposition ein und konzentriert sich auf die Anfertigung der verschiedenen Arten von Exordia. Zu den wichtigsten Punkten gehören implizite Spuren von Überlegungen zur rhythmischen Organisation des Briefs und zum Teil metrische Exordia, obwohl sich die Abhandlung klar auf Überlegungen zur Prosa-Epistolographie beschränkt. Die Überlegungen und vergleichenden Tabellen in der Einleitung sowie die langen Zitate von loci paralleli für jeden Abschnitt ermöglichen es, diese Überlegungen mit Bernards anderen Werken, aber auch mit früheren und zeitgenössischen Etappen der ars dictaminis (Alberico di Monte Cassino, Adalberto Samaritano) in Zusammenhang zu bringen und sich ein Bild davon zu machen, welchen Platz diese frühe Arbeit in der Kette der ersten ars dictaminis-Traktate einnimmt, eine umso wichtigere Frage, als Bernardus eine zentrale Rolle in der Entwicklung dieser Disziplin zu dem Zeitpunkt spielte, als sie ihre Expansion außerhalb von Italien begann. Mit dieser Ausgabe bestätigt B. ihren Platz als wichtige Expertin für das erste Jahrhundert der ars dictaminis.
Benoît Grévin