Rudolf Conrades, Der Schweriner Dom und König Ludwig IX. von Frankreich. Zum Transfer der Hochgotik in den Ostseeraum, Petersberg 2023, Michael Imhof Verlag, 365 S., Abb., ISBN 978-3-7319-1123-4, EUR 49,95. – Das Buch erhebt den Anspruch, nicht nur die Baugeschichte des Schweriner Doms in ein neues Licht zu stellen, sondern das traditionelle Bild von der Entstehung und Verbreitung der Backsteingotik im Ostseeraum generell neu zu zeichnen. Nicht Dom und Marienkirche in Lübeck, sondern der Schweriner Dom habe, so der Vf., als Inkunabel und Leitbau jener Gruppe anspruchsvoller Sakralbauten zu gelten, die über einen Umgangschor mit Kapellenkranz nach dem Muster der Kathedrale von Soissons verfügen. Dazu gehören auf deutschem Boden nicht nur die genannten Bauten, sondern auch das Doberaner Münster, die Nikolaikirchen in Wismar und Stralsund sowie St. Marien in Rostock. Die Kernthese von C. ist ebenso spektakulär wie einleuchtend. Er setzt den gut belegten Aufenthalt des Schweriner Bischofs Rudolf I. 1262 am Hof des französischen Königs Ludwig IX. in Zusammenhang mit dem Neubau der Schweriner Kathedralkirche und sieht in einem kostbaren Reliquiengeschenk des französischen Königs an den Bischof, einem Dorn aus der in der Pariser Sainte-Chapelle verwahrten Dornenkrone Christi, den Auslöser für die Gestaltung des Doms in gotischen Formen. In mühevoller Kleinarbeit gelingt es C. auf Basis der historischen Quellen, nicht nur die Details der Frankreichreise des Bischofs zu rekonstruieren, sondern auch den Baubeginn des Schweriner Doms auf die Zeit um 1265 festzulegen. Gleichzeitig unterzieht er den derzeitigen Forschungsstand zur Baugeschichte der übrigen Bauten der beschriebenen Gruppe, insbesondere der Lübecker Kirchen, einer kritischen Prüfung. In der Gesamtschau und unter Abwägung aller Argumente vermag C.s These von der Anciennität des Schweriner Umgangschors zu überzeugen. Ob es dabei aber wirklich darum ging, wie der Vf. meint, Pariser Formengut an die Ostsee zu holen, oder nicht schlicht und einfach darum, einen beeindruckenden neuen Dom in modernen Formen zu errichten, ist eine andere Frage. So überzeugend und gut untermauert die Ausdeutung der historischen Quellen durch C. auch sein mag, ist seine kunsthistorische Argumentation doch eher holzschnittartig. Gotik ist gleich Frankreich, und Frankreich ist gleich Paris, so lautet, vereinfacht gesagt, die dem Buch zugrundeliegende Sicht der Dinge. Die Realität des Geschehens in der europäischen Architekturszene des 13. Jh. war jedoch weit komplexer. Vom Stil der Pariser Sainte-Chapelle und des Langhauses der Abteikirche von Saint-Denis, welchen die Kunstgeschichte unter dem Begriff des style rayonnant zusammenfasst, ist der Schweriner Dom denkbar weit entfernt. Wie gut dieser Stil damals im deutschsprachigen Raum bereits bekannt war, zeigen, ganz ohne Reliquiengeschenke aus Paris, die Bischofskirchen von Köln und Straßburg. In Schwerin hingegen hat sich der Baumeister demonstrativ vom Pariser Rayonnant-Stil abgewendet. Mit seinen von breiten Wandstreifen gerahmten, dreibahnigen Fenstern, der blinden, vom Stabwerk der Fenster überzogenen Mittelzone der Wand und den filigranen Dienstbündeln, die Wände und Pfeiler gliedern, erscheint der Schweriner Dom als ein typisches Beispiel der für das späte 13. Jh. im deutschsprachigen Raum charakteristischen Reduktionsgotik. Damit verweist seine Stilistik nicht auf die Pariser Sainte-Chapelle, sondern auf die damals hochaktuelle südfranzösische Gotik, als deren Leitbau die 1248 begonnene Kathedrale von Clermont-Ferrand gelten darf. In dieser stilistischen Haltung ist der Schweriner Dom anderen ambitionierten Bauten des späten 13. Jh. im Reich geistesverwandt, beispielsweise den Langhäusern der Dome von Magdeburg und Halberstadt, der Zisterzienserkirche in Salem oder der Abteikirche in Weißenburg (Elsass). Die Bezüge zur Gotik der Ile-de-France beschränken sich hingegen auf die Übernahme des letztlich auf den Sugerbau von Saint-Denis zurückgehenden Chorgrundrisses. Diese Bemerkungen sollen das Verdienst der Arbeit von C. nicht schmälern, die Diskussion um die Verbreitung der Gotik im Ostseeraum neu belebt zu haben. Für die Kunstgeschichte und die Bauforschung gilt es nun, den Ball aufzugreifen und die Zusammenhänge mit ihren eigenen Methoden vertieft zu überprüfen.
Marc C. Schurr