Eva Schlotheuber / Maria Theisen, Die Goldene Bulle von 1356. Das erste Grundgesetz des römisch-deutschen Reichs. Nach König Wenzels Prachthandschrift (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 338), Darmstadt 2023, wbg Edition, 432 S., Abb., ISBN 978-3-534-27642-4, EUR 150. – Die WBG bemühte sich über viele Jahre um liebevoll illustrierte und kommentierte Reproduktionen von „Klassikern“ ma. Hss. wie etwa dem Evangeliar Heinrichs des Löwen (2018) oder dem Codex Manesse (2015). Der vorliegende Band nimmt sich der Goldenen Bulle Kaiser Karls IV. von 1356 an. Von dem Herrscher sind knapp hundertfünfzig mit Goldsiegeln bekräftigte Urkunden bekannt, aber nur diese eine gelangte zu der Prominenz der Goldenen Bulle Karls und einer jahrhundertelangen verfassungsgeschichtlichen Bedeutung. Karls Sohn und Nachfolger König Wenzel ließ 1400 von dem Dokument eine kostbar bebilderte Abschrift herstellen, von der der Band die vollständige farbige Reproduktion aller 77 Folia (S. 173–330) sowie eine Beschreibung der Initialen und Miniaturen (S. 351–365) bietet. Darüber hinaus gibt es Darlegungen zum Entstehungskontext (S. 332–350) sowie eine Beschreibung der Prachths. und eine detaillierte Auflistung der anderen „Originalausgaben“ – gemeint sind damit jene Stücke aus der kaiserlichen Kanzlei für fünf der sieben Kurfürsten sowie die etwas später entstandenen Exemplare für die Stadtkommunen Frankfurt am Main und Nürnberg. Zudem enthält der Band eine Gegenüberstellung des lateinischen Texts mit einer neuhochdeutschen Übersetzung (S. 375–412), die von Wolfgang D. Fritz 1978 im Umfeld seiner Edition in den MGH Const. erstellt wurde. Das alles ist überaus verdienstvoll, und es ist gar nicht genug zu loben, diese Hs. und damit die Goldene Bulle Kaiser Karls einem breiteren Leserkreis (wieder) bekannter zu machen. Problematisch hingegen ist die Argumentation der Vf. in der Einleitung und den Einführungstexten (S. 7–171) bei der Klärung grundsätzlicher Fragen: Was stellte die Goldene Bulle zur Entstehungszeit eigentlich dar und warum wurde sie erlassen? So deuten sie etwa die „Goldene Bulle als politische Vision“: Karl und seinen Beratern seien die „Strukturmängel des Reichs bewusst“ gewesen, weshalb sie nun „Abhilfe zu schaffen“ entschlossen gewesen seien, und zwar für eine „Wende in eine neue Zukunft“ (S. 142f.). Das klingt sehr schön und modern gedacht, doch zielt es in anachronistischer Weise am Wesen vorbei: Der Grundgesetzcharakter der Goldenen Bulle ist Ergebnis eines über Jahrhunderte andauernden Rezeptionsprozesses. Zur Zeit der Entstehung war das Dokument aber ein zäh ausgehandelter Kompromiss zwischen den Fürsten und dem Kaiser und beileibe kein wohlwollender Gestaltungsakt des Gesetzgebers. Auch ein Kurfürstenkollegium „als kollektive Repräsentanz des Reichs“ (S. 143) ist ein Bild, das erst von rückwärts her tatsächlich an Kontur gewinnt. Und wie sollte denn für die „neue Zukunft“ eine angestrebte Friedensregelung Bestand haben, wenn die bayerischen Wittelsbacher oder die Habsburger, Familien, die schon Könige gestellt hatten, von der Kurwürde ausgeschlossen bleiben sollten? Hier wurde eher ein Grundkonflikt zementiert, denn die Goldene Bulle behandelt nicht nur das Verhältnis der Kurfürsten zum Herrscher, sondern legt eine deutliche Distinktion gegenüber anderen Fürsten fest. Auch stammten die dort niedergelegten Regelungen nicht alle von einem vorausschauenden Kaiser Karl, vielmehr enthält die Goldene Bulle viel an juristischem Gedankengut seines Vorgängers Kaiser Ludwig IV., des Erzfeinds, so dass man auch von einer „feindlichen Übernahme“ (Michael Menzel 2009) sprechen könnte. Die gesamte Argumentation erweckt dagegen den Eindruck, als sei fast alles, was die Goldene Bulle später ausmachte, schon von Karl intendiert gewesen, was bei genauerer Betrachtung nicht zutrifft. Die angebliche in die Zukunft gedachte Vision Karls löst sich bei aller Rhetorik vollends in Luft auf, wenn man sieht, dass er sich 1376 bei der Wahl seines Sohns Wenzel zum Nachfolger nicht einmal selbst an die Regelungen der Goldenen Bulle hielt. Einige wenige weitere Probleme seien nur kurz angerissen: Im Literaturverzeichnis fehlt jener Band von 1978, auf dem die Übersetzung fußt. Überhaupt weist das Verzeichnis große Lücken auf, so fehlen etwa für den Bereich der Kunst die bahnbrechenden Arbeiten des tschechisch-deutschen Kunsthistorikers Jiří Fajt, der für die Hofkunst als politisches Mittel zur Zeit Karls den Begriff des „Kaiserlichen Stils“ geprägt hat, oder auch MGH Const. ab Bd. 12, als hätten die darin enthaltenen Dokumente ab 1356 mit der Verfasstheit des Reichs nichts mehr zu tun. Ein Beispiel: Ein Brief Karls an den Erzbischof von Köln vom 13. April 1361 (S. 144 mit Anm. 49) wird mit einem Druck von 1853 belegt, obwohl er in MGH Const. 13,2 von 2017 S. 509 Nr. 574 modern ediert vorliegt. Zudem werden einige Missverständnisse, die sich seit Jahrzehnten durch die Forschungsliteratur fortschleppen, leider auch hier wiederholt. So wird die in Abb. 16 (S. 122) gezeigte Krone aus dem Domschatz in Monza zwar heute als Eiserne Krone bezeichnet, diese war aber gerade nicht das Krönungsdiadem Karls 1355 in Mailand (wie auch nicht das von Heinrich VII., Ludwig IV. oder Sigismund). Denn es gab eine tatsächlich eiserne, heute verschollene Krone, mit der diese Herrscher gekrönt wurden. Die Legende von der Eisernen Krone wuchs erst im 15. Jh. mit dem heute als Eiserne Krone bezeichneten Diadem in Monza zusammen, wie übrigens schon Ludovico Antonio Muratori in seinem 1719 erschienenen Werk De corona ferrea darlegte. Vernachlässigt wurde auch, dass es einen klaren juristischen Unterschied gibt zwischen einem provisor, also einem Verweser, der Königsrechte ausübt, weil es wegen Thronvakanz keinen regulären König gibt, und einem vicarius, also Vikar, der in Vertretung eines lebenden und regierenden Königs handeln kann, weil dieser nicht vor Ort ist (z.B. S. 155f.). Im Text der Goldenen Bulle steht in c. 5 eindeutig, dass der Pfalzgraf bei Rhein bei Vakanz (quotiens ... sacrum vacare continget imperium) als provisor imperii Gericht halten und Belehnungen vornehmen darf. Vikare hingegen, und das hatte mit der Goldenen Bulle gar nichts zu tun, setzte Karl ein, um sich in Abwesenheit vertreten zu lassen, wie etwa, als er auf einem Hoftag zu Nürnberg am 26. Oktober 1366 seinen Halbbruder Wenzel von Luxemburg für das Gebiet nördlich der Alpen für die Zeit seines zweiten Romzugs 1368/69 als Reichsvikar einsetzte. Insgesamt gibt es mehr als 50 Vikariatsurkunden aus Karls Herrschaftszeit, wobei er besonders oft in Italien Vikare ernannte, um usurpierte Herrschaft in beiderseitigem Interesse als legitim erscheinen zu lassen. Schon im 18. Jh. hatten in ihren grundlegenden Kommentaren zur Goldenen Bulle Johann Peter Ludewig (Vollständige Erläuterung der Güldenen Bulle, 1752) und Johann Daniel Olenschlager (Neue Erläuterung der Goldenen Bulle, 1766) trotz gelegentlich eigener Vermischung der Terminologie dargelegt, dass es fundamentale juristische Unterschiede zwischen diesen beiden Begriffen und folglich beiden Sachinhalten gibt, denn ein Handeln ohne König ist ja etwas ganz anderes als ein Handeln in des Königs Namen: „Prouisor aber heißt derjenige, der etwas verwaltet, was jetzo keinen Herrn hat“, kommentierte Johann Peter Ludewig (Bd. 1 S. 533). Ebenso wird mehrfach der Begriff des Pfalzgrafen unpräzise verwendet, denn die sogenannten „Lateranensischen Pfalzgrafen“, die Karl ernannte – mehrere Dutzend solcher Urkunden sind bekannt –, haben lediglich den Namen mit den traditionellen nordalpinen Pfalzgrafen wie etwa dem Pfalzgrafen bei Rhein gemein, bezeichnen aber in der Herrschaftshierarchie etwas völlig anderes. Es gab sie praktisch nur in Italien. Sie durften kraft kaiserlichem Privileg Notare und Richter ernennen und andere öffentliche Funktionen wahrnehmen, etwa die Legitimierung von unehelich Geborenen. Ihre Erhebungsurkunden waren in den meisten Fällen prachtvoll gestaltet, besaßen alle äußeren Merkmale feierlicher Privilegien und natürlich goldene Siegel als Beglaubigung, waren also auch Goldene Bullen. Trotz aller Kritik sei aber noch einmal der Wert des Bandes hervorgehoben, denn die hier präsentierte Hs. markiert auf prachtvolle Weise den Beginn eines langen Rezeptionsprozesses der Goldenen Bulle, in dessen Verlauf sich tatsächlich ein Grundgesetzcharakter für die Zeit des Alten Reichs ausformte.
Olaf B. Rader