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Tenere et habere. Leihen als soziale Praxis im frühen und hohen Mittelalter, hg. von Jürgen Dendorfer / Steffen Patzold (Besitz und Beziehungen 1) Ostfildern 2023, Jan Thorbecke Verlag, 482 S., ISBN 978-3-7995-5040-6, EUR 50. – Mitte des 20. Jh. konstruierten Wissenschaftler wie Heinrich Mitteis in Deutschland und François-Louis Ganshof auf internationaler Ebene eine meisterhafte Sicht des Feudalismus, die ein halbes Jahrhundert lang als endgültig galt. Im Jahr 1994 jedoch griff Susan Reynolds den etablierten Konsens über den Feudalismus frontal an. Spätere Veröffentlichungen haben gezeigt, dass die ältere Forschung gründlich überprüft werden muss, auch wenn Reynolds vielleicht nicht in allen Punkten recht hat. Leider war Reynolds viel besser darin, Altes zu zerstören, als etwas Neues aufzubauen, und das hat die Verbreitung ihrer Ideen außerhalb des Kreises der MA-Historiker behindert. Viele allgemeine Werke wiederholen noch immer die alten Lehrbücher, weil Reynolds keine Alternative präsentierte und lange Zeit auch niemand anderes. Fast dreißig Jahre später ist dies der erste ehrgeizige Versuch, einen Rahmen für das ma. Eigentum nach Reynolds zu schaffen. Der einleitende Artikel der Hg. (S. 11–23) führt den Leser in das neue Konzept ein, für das dieses Buch wirbt. Anstelle des engeren Begriffs des Lehens gehen die Vf. von der Leihe aus. Dieser terminologische und konzeptionelle Wechsel ermöglicht es ihnen, nicht nur eine einzige Art von Verhältnissen darzustellen, sondern die vielen Formen, die es in all ihren Variationen und ihrer Flexibilität gibt. Jeder Vf. hat das Konzept der Leihe als zentrales Element für die Betrachtung verschiedener Quellen, Regionen und Epochen verwendet. So finden wir für die Karolingerzeit Kapitularien (Christoph Haack, S. 27–52), Urkunden von Herrschern (Daniel Ludwig, S. 53–84) oder kirchlichen Institutionen (Thomas Kohl, S. 85–102, für die Regionen östlich des Rheins; Fraser McNair, S. 103–130, für das westfränkische Reich), Formularien (Marco Veronesi, S. 131–156) und Polyptychen (Steffen Patzold, S. 157–182). Das Buch geht auch über die Karolingerzeit hinaus und untersucht spätere Entwicklungen, wobei wiederum verschiedene Materialien herangezogen werden. Auf der Ebene des Reichs werden narrative Quellen (Levi Roach, S. 185–211, für die Zeit von 1070 bis 1150 und Roman Deutinger, S. 213–228, für das Jahrhundert danach) sowie königliche und kaiserliche Urkunden (Rüdiger Lorenz, S. 229–287) analysiert. Vier lokale Studien ergänzen sie (Sebastian Kalla, S. 289–332, über die Urkunden der Bamberger Bischöfe 1102–1260, Jürgen Dendorfer, S. 333–373, über die bayerischen Traditionsbücher, Rebekka de Vries, S. 375–411, und Alberto Spataro, S. 413–436, über Urkunden aus Vercelli bzw. Mailand). Die wichtigste allgemeine Schlussfolgerung aus all diesen detaillierten Forschungen ist, dass Historiker auf den alten Tyrannen, den Begriff des Lehens, verzichten können und dass Leihe es ihnen ermöglicht, zu einem viel nuancierteren Bild der ma. Realität zu gelangen. Insbesondere machen die beiden Teile deutlich, dass Leihe ein sich entwickelnder Begriff war, der mehrere Situationen umfasste, von denen einige in der Karolingerzeit stärker ausgeprägt waren als Lehen. Letztere kristallisierten sich erst im 11.–13. Jh. allmählich zu einem eigenständigen Phänomen heraus, und selbst dann hing es von vielen Elementen ab, ob sie sich wirklich abhoben. Die Stärke des Buchs liegt jedoch nicht so sehr darin, dass es das Lehen von seinem Thron stürzt – das hat schon Reynolds getan –, sondern dass es unsere Aufmerksamkeit auf viele andere Formen des tenere et habere lenkt, die zuvor im Schatten des Lehens standen. Einige der jüngeren Kinder stellen nun den erstgeborenen Sohn in den Schatten. Im Gegensatz zu Reynolds stellt das Buch eine echte Alternative zum Feudalismus vor, doch einige Bemerkungen sind anzubringen. Spezialisierte Bücher, die sich mehr auf Lehen konzentrieren, haben möglicherweise andere Formen des Grundbesitzes vernachlässigt. Dennoch haben viele allgemeine Handbücher in Europa zunächst zwischen Allod und Leihe unterschieden und sich dann nur noch mit feudalen und nichtfeudalen Besitzverhältnissen befasst. Nicht jeder wird also den Ansatz dieses Buchs als völlig neuartig empfinden. Eine weitere Gefahr könnte darin bestehen, dass wir die Tyrannei des einen Konstrukts durch die Tyrannei eines anderen ersetzen. Bemerkenswerterweise haben alle Vf. große Anstrengungen unternommen, um innerhalb des neuen Rahmens zu denken, aber das könnte sie in dieselbe Falle führen wie ihre Vorgänger, indem sie versuchen, alles in ihren Rahmen einzupassen. Gab es zum Beispiel wirklich überall ein übergreifendes Konzept der Leihe? Meine eigene Sprache, das Niederländische, ist die Sprache, die dem Deutschen am nächsten steht, aber sie kennt das Wort Leihe nicht in der Bedeutung, die es in diesem Buch hat, und ich habe es auch nicht in der frühesten niederländischen Volkssprache in der Grafschaft Flandern gefunden. Andererseits wird in einigen flämischen Urkunden nicht zwischen feudal und allodial, sondern zwischen feudal und nicht feudal unterschieden. Es kann auch vorkommen, dass Allod als ein Lehen konstruiert wird, das von Gott gehalten wird. Wie diese Beispiele zeigen, müssen wir vorsichtig bleiben und dürfen uns nicht von einem neuen Konzept für einige Aspekte der ma. Realität blenden lassen. Ich fürchte nicht, dass dies den Pionieren, die in diesem Buch geschrieben haben, passieren wird, aber es kann allzu leicht das Ergebnis sein, wenn ihre Erkenntnisse in Lehrbüchern für Studenten zusammengefasst werden. Dieses Buch hat die Tür zu neuen Forschungen über ma. Eigentumsvorstellungen geöffnet, aber es erschließt das Thema natürlich nicht vollständig. Es besteht noch weiterer Forschungsbedarf, zumal es sich nun vor allem um ein Buch von ‘Gläubigen’ handelt, die bereit sind, den Hg. bei der Verwendung des Begriffs der Leihe zu folgen. Es wäre interessant, wenn wir ein Buch mit kritischen Reflexionen bekommen könnten (vielleicht sogar auf Initiative der Hg.). Dem steht jedoch noch ein Hindernis im Weg. Es handelt sich um ein Buch, das von möglichst vielen MA-Historikern gelesen werden sollte, aber leider werden viele Kollegen ein Buch in deutscher Sprache nicht lesen und damit eine der spannendsten Erscheinungen zur ma. Geschichte verpassen.

Dirk Heirbaut