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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 80,2 (2024) *.

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Markus Krumm / Eugenio Riversi / Alessia Trivellone, Die Erfindung der Katharer. Konstruktion einer Häresie in Mittelalter und Moderne, Regensburg 2023, Schnell & Steiner, 208 S., 44 Abb., ISBN 978-3-7954-3797-8, EUR 49,95. – Als Begleitband für eine Ausstellung an Universitäten in Frankreich (A. Trivellone, Montpellier) und Deutschland (M. Krumm, Bonn) ist dieser anschaulich illustrierte Sammelband entstanden. Darin wird gezeigt, dass ‘die Katharer’ eine Konstruktion ist, die zweimal ‘erfunden’ wurde, einmal im MA und ein zweites Mal in der Forschung seit Ende des 19. Jh. Dem entspreche aber keine historische Einheit, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Gruppen. M. Krumm resümiert die Forschungsgeschichte (S. 17–45, darin auch ein Interview mit J.-L. Biget). Dass das Wort Katharer nicht im MA geprägt wurde, sondern der Ausgrenzung der besonders strengen Christen (die ‘Reinen’, auch Novatianer) in der Spätantike diente, erläutert A. Trivellone (S. 47–67). Die Zisterzienser ‘entdeckten’ und verbreiteten europaweit in ihrem Netzwerk rasch wachsender Klöster die Kunde (Everwin von Steinfeld an Bernhard von Clairvaux, der wiederum predigte in Sermo 66 von der bedrohlichen Krankheit) von Christen, die mit ihrer übertriebenen Askese die Grundlagen der Gesellschaft zerstörten und deshalb verbrannt werden müssten. Zur Datierung der ersten Verbrennung bei Köln 1143 oder 1147 (S. 74 mit Bezug auf Uwe Brunn, Des contestataires aux „Cathares“, 2006, vgl. DA 64, 763f.) und einem langen (deutschen) Zitat aus Everwins Beobachtungen äußern sich Sarah Schnödewind, E. Riversi und Ulf Flossdorf (S. 68–109). Die Dominikaner Norditaliens, besonders Rainer Sacconi, bauten ein Feindbild auf von einer hierarchischen Gegenkirche und einem Papst Niketas (A. Trivellone, S. 111–139). Jean-Louis Biget, M. Krumm, A. Trivellone, und U. Flossdorf beschreiben dann (S. 140–167), wie die Häresie so aufgebauscht wurde, dass sie für Zisterzienser und Nordfranzosen zum Anlass werden konnte, Okzitanien mit einem Kreuzzug zu überziehen. Doch die ‘Häresie’ konnten sie nicht auslöschen. Der Weg zur Inquisition führte über das kanonische Recht (Sophia Victoria Clegg und Jean-Paul Rehr, S. 169–195), und die Verleumdungen des Konrad von Marburg und ein leichtgläubiger Papst spielten eine fatale Rolle. Den Schluss bilden Ausführungen zu Perspektiven der jüngeren Forschung (S. 197–208). Verzeichnisse der Quellen und Forschungsliteratur, lange Quellenzitate, sehr gute Abbildungen aus Hss. und von Orten machen das Buch geeignet für Seminare. Nur an der Oberfläche gestreift wird das religionswissenschaftliche Problem, dass im Grunde jede Häresie eine ‘Erfindung’ darstellt – mit welchem Namen auch immer –, die der Delegitimierung anderer ‘religiöser Bewegungen’ (so metasprachlich besser Auffarth, Die Ketzer, ³2016, statt die Perspektive der ‘Orthodoxen’ zu übernehmen, vgl. die ausführliche Rezension des vorliegenden Buchs https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/07/11/die-erfindung-der-katharer/ [11.07.2023]) dient und Bischöfen wie Herrschern das Recht in die Hände spielt, die ‘Einheit der Kirche’ gewaltsam herzustellen. Vielfalt bedrohe das Christentum. Die religiöse Vielfalt des 12. Jh. wird im 13. Jh. verängstigt, verurteilt, verbrannt.

Christoph Auffarth