Claire Tignolet, Théodulf d’Orléans (vers 760–821). Histoire et mémoire d’un évêque carolingien (Collection Haut Moyen Âge 46) Turnhout 2023, Brepols, 291 S., ISBN 978-2-503-60158-8, EUR 80. – Theodulf von Orléans war einer der wichtigsten Berater Karls des Großen und Ludwigs des Frommen. Als spanischer Flüchtling gelangte er in den 80er Jahren des 8. Jh. an den karolingischen Hof. Ende der 90er Jahre wurde er zum Bischof von Orléans erhoben und erhielt außerdem die Abtswürden der Klöster Fleury, Saint-Aignan in Orléans und Saint-Liphard in Meung. 817 geriet er in politische Schwierigkeiten und wurde beschuldigt, sich an der Rebellion Bernhards von Italien beteiligt zu haben. In der Folge war er gezwungen, von seinen kirchlichen Funktionen zurückzutreten. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er im Exil in Angers. Vielleicht wurde er 821 noch vom Kaiser amnestiert, als dieser alle begnadigte, die in die Rebellion Bernards verstrickt gewesen waren, vielleicht war er zu der Zeit schon verstorben. Jedenfalls wurde er nie förmlich rehabilitiert und starb im Exil. Obwohl Untersuchungen von Elisabeth Dahlhaus-Berg, Ann Freeman, Dieter Schaller, Peter Godman und Francesco Stella viele neue Einsichten in Theodulfs Leben und Werk ergeben haben, gab es bisher keine moderne Studie über ihn. Die letzte umfassende Monographie von Ernst Rzehulka datierte aus dem Jahr 1875. Die hier vorgelegte Arbeit ist deshalb sehr willkommen. Sie stellt keine Biographie im traditionellen Sinn dar, sondern fokussiert auf vier Themen. Zuerst bespricht die Vf. die Frage, ob Theodulf einer damnatio memoriae unterworfen gewesen sei, wie Dahlhaus-Berg unterstellt hat, und kommt zu einem anderen Ergebnis. Theodulfs literarische Arbeiten sind immerhin unter seinem Namen überliefert und haben auch eine breite Wirkung ausgeübt. Im Orléanais finden sich nach der Amtszeit seines Nachfolgers Jonas von Orléans immer mehr Texte, die Theodulf positiv beschreiben. Die architektonische Leistung des Baus der Kirche in Germigny-des-Prés hat wesentlich zum Nachleben des Bischofs beigetragen. Die detaillierte Untersuchung der Erinnerung an den in Ungnade gefallenen Bischof ist eine der Stärken dieses Buchs. Als zweites Hauptthema bespricht T. die stark vom Hof bestimmte Mobilität Theodulfs. Auf der lokalen Ebene in Orléans war er vor allem ein Vertreter des Hofs, und seine Anwesenheit auf Konzilien sowie seine Reisen als Missus resultierten aus dem Dienst für den Herrscher. Im Jahr 800 soll er Karl den Großen nach Rom begleitet haben, als dieser dort die Kaiserwürde erhielt. 816 war er in Reims bei der Weihe Ludwigs des Frommen anwesend, und auch seine letzte Reise nach Angers, ins Exil, war vom Hof bestimmt worden. Das dritte Thema ist der Beitrag Theodulfs zu den vom Hof ausgehenden geistigen Impulsen, die man als karolingische Reform bezeichnen kann. Theodulf trug zu wichtigen kirchlichen Debatten bei, wie z. B. dem Bilderstreit, und bemühte sich um die Herstellung eines genauen Bibeltextes sowie um die Bibelexegese. T. deckt dahinter ein Programm auf: Theodulf wollte für verschiedene Gruppen der Gesellschaft Verhaltensmodelle skizzieren. Für die Richter schrieb er sein Gedicht Ad iudices, für die Bischöfe das Gedicht Ad episcopos, für die lokalen Priester sein Bischofskapitular, einen Text, der sich indirekt auch an die Laien richtet. Als letztes Thema betrachtet T. die persönlichen Netzwerke Theodulfs, wobei noch einmal die starken Bezüge zum Hof auffallen. Das Buch ist, wie gesagt, keine Biographie, sondern zeigt anhand einer außergewöhnlichen Person wichtige Facetten der karolingischen Gesellschaft, Kultur und Politik. Es trägt auf diese Weise nicht nur bei zum besseren Verständnis dieses spanischen Flüchtlings, der an die politische und kulturelle Spitze der karolingischen Gesellschaft aufstieg, stürzte und wieder ins Exil gehen musste, sondern auch zum besseren Verständnis der karolingischen Herrschaft als solcher und der Verortung und Vernetzung der Hauptfiguren dieser Epoche.
Rob Meens