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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 80,2 (2024) *.

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Christian Gastgeber, Byzantinische Soziographik. Der griechische Schreiber und seine Handschrift (Prolegomena Byzantina 1) Baden-Baden 2024, Ergon, 314 S., 40 Abb., ISBN 978-3-98740-092-6, EUR 74. – Das Buch des Vf., der sich seit Jahrzehnten mit Hss. beschäftigt, ist nur bedingt eine paläographische, keinesfalls eine kodikologische Studie, sondern widmet sich ganz den Kopisten, deren Tätigkeit im griechischen Bereich bisher nur marginales Interesse erfahren hat. Es geht zentral um die Frage des Zusammenwirkens von Schrift und Schreiber und um das Wechselspiel zwischen Gesellschaft und Schrift, wofür der Vf. den Neologismus „Soziographik“ geschaffen hat. Die zwölf Kapitel sind in 43 Einzeltitel untergliedert und können auf diese Weise sehr viele Probleme anschneiden, wie etwa „Schriftentwicklung und ihre alogischen Faktoren“ (S. 67), „(Ab)schreiben“ (S. 92), „Schreiben auf Diktat“ (S. 99), „wie schrieb ein Kalligraph?“ (181), „wie schrieb ein Anagnostes?“ (der Vorleser in der Liturgie, der immer mit Schriften zu tun hatte) (S. 185), „wie schrieb ein Kanzleibeamter in Buchschrift?“ (S. 191), „der griechische Kopist in der westeuropäischen Diaspora“ (S. 260). Die Darstellung behandelt aber nicht nur die Mikrowelt der Buchstaben, sondern auch die Reaktion der Kopisten auf kulturelle und gesellschaftliche Umwälzungen wie den Übergang von der Rolle zum Pergamentcodex, der Majuskel zur Minuskel und das Verhältnis von Kalligraphie zur Kanzleischrift, die nicht allgemein als bekannte Phänomene abgehandelt werden, sondern in ihrer konkreten Auswirkung auf Schreibformen und -methoden und belegt mit Hinweisen auf konkrete Hss. Es sind Fragen und Beobachtungen, die jedem, der sich mit Hss. beschäftigt, durch den Kopf gehen (oder es sollten) und in manchen Aufsätzen auch angesprochen werden, hier aber nun „gesammelt“ vorliegen, manchmal mit Antworten, aber auch als Gegenstand (Ausgangspunkt) für weitere Überlegungen. Der Vf. geht von der Schreibtätigkeit im griechischen Bereich aus, aber die Darstellung hat Bedeutung für den gesamten europäischen Schreib-Kulturraum und mutatis mutandis auch darüber hinaus, weil jeder Schreiber sozialen Komponenten unterworfen ist. Darin liegt der übergreifende Wert dieses Buchs, dessen Umgang mit dem deutschen Stil die Lektüre nicht immer leicht macht, das aber jedem, der sich für das Zustandekommen des später Gedruckten interessiert, empfohlen werden soll.

Peter Schreiner