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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 80,2 (2024) *.

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Hedwig Röckelein, Medizin und Astronomie in der Karolingerzeit. Bibliotheken als Speicher antiken Wissens (Seraphim 18) Tübingen 2023, Mohr Siebeck, 179 S., ISBN 978-3-16-161085-1, EUR 49. – Anhand von erhaltenen Hss. wird in diesem sehr gelungenen Buch untersucht, wie in der Karolingerzeit antikes medizinisches und astronomisches Wissen rezipiert wurde. Dabei geht die Vf. davon aus, dass diese Wissensgebiete wegen ihrer paganen Ausrichtung nicht ohne ‘Bearbeitung’ in das christliche Denken aufgenommen werden konnten. Die untersuchten Hss. des 8. und 9. Jh. stammen aus der Aachener Pfalzbibliothek sowie aus den Klosterbibliotheken von Lorsch und St. Gallen. Die aus diesen drei Bibliotheken erhaltenen Bestände aus der Zeit bis ca. 900 werden kurz beschrieben. Anhand der sinnvollen Unterscheidung zwischen „Bibliotheken“ und „Büchersammlungen“ wird klar, dass die überlieferten Bestände nicht homogen sind (oder waren), sondern innerhalb der drei Einrichtungen an sehr verschiedenen Orten aufbewahrt wurden und unterschiedlichen Benutzungsordnungen unterlagen. Da die Hss. für den Gebrauch unterschiedlicher Personengruppen bestimmt und somit mobil waren, wechselte die Zusammensetzung der Bestände permanent. Anhand von Hss., literarischen Quellen und Bücherverzeichnissen wird der Schulbetrieb in den drei Einrichtungen rekonstruiert. Das Kernstück des Buchs bildet die Beschreibung und Bewertung der antiken astronomischen Texte in karolingischen Hss. aus den drei genannten Provenienzen und deren (teilweise) Wiederverwendung im weiten Bereich des kirchlichen Computus. Besonders aus St. Gallen sind zahlreiche Hss. dieser Art erhalten geblieben. Die danach behandelte antike Medizin gelangte über lateinische Übersetzungen ins Blickfeld karolingischer Autoren. Sie wurde ergänzt durch „ein zweites System der Kranken- und Gesundheitsfürsorge, die Aitiologie“ (S. 78), den Glauben an die Wunder Christi und der Heiligen. Griechische Ärzte wurden zu christlichen Heiligen. Sowohl aus St. Gallen als auch aus Lorsch sind zahlreiche medizinische Werke entweder vorhanden oder nachgewiesen, überwiegend in Sammelhss. Soweit diese nicht vor Ort entstanden sind, stammen sie häufig aus Norditalien bzw. aus England oder Irland. Auffallend viele Palimpseste oder codices rescripti aus St. Gallen enthalten medizinische Texte. Der aus Lorsch stammende Caelius Aurelianus, das pseudogalenische Alphabetum und das Lorscher Arzneibuch werden ausführlich behandelt. Die Frage nach der Anwendbarkeit des überlieferten medizinischen Wissens in der Heilkunde des 9. Jh. wird gestellt, aber nicht beantwortet. Eine weitere Rezeption antiker Medizin erfolgte, als magische Texte der Antike mit christlichen Gebeten und Symbolen ‘gerahmt’ und so benutzbar gemacht wurden. Während die paganen astronomischen Vorstellungen bereits in der Karolingerzeit nach und nach in die christliche Zeitrechnung inkorporiert wurden, wurde die antike Medizin erst ab dem 11. Jh. christlich überformt. In einer Art Zugabe skizziert R. den Aachener Hof Karls des Großen als eine Anlage, die auch eine Bibliothek, ein Schwimmbad und ein ‘Gesundheitszentrum’ umfasste.

Eef Overgaauw