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The Collectio Avellana and the Development of Notarial Practices in Late Antiquity, ed. by Rita Lizzi Testa / Giulia Marconi with the assistance of Alessandra Giomma (Giornale italiano di filologia, Bibliotheca 31) Turnhout 2023, Brepols, 672 S., ISBN 978-2-503-58836-0, EUR 115. – Seit etwa 15 Jahren ist ein vermehrtes Interesse der Forschung an der Collectio Avellana (CA) festzustellen, das sich schon in wichtigen Beiträgen der Zeitschrift Cristianesimo nella storia (35, 2014, und 39, 2018) sowie in einem Sammelband aus dem Jahr 2019 (The Collectio Avellana and its Revivals) niedergeschlagen hat, alle aus der Feder oder unter der Leitung von L. T. Der neue Band, der auf eine Tagung in Perugia, Gubbio und Fonte Avellana im September 2019 zurückgeht, macht die seither erzielten Fortschritte sichtbar. Die CA, eine Kompilation von 244 Stücken aus den Jahren 367–553, hatte zwei Leben: das erste zur Zeit ihrer Zusammenstellung, mehr oder weniger gleichzeitig mit derjenigen des Liber pontificalis und der Variae Cassiodors im 6., das zweite Ende des 11./Anfang des 12. Jh., als die Sammlung in Polirone und in Fonte Avellana kopiert wurde, wie die Hss. Vatikan, Bibl. Apostolica Vaticana, lat. 3787 und 4961, bezeugen. Beide Male, wenn auch unter unterschiedlichen Vorzeichen, ging es darum, Material zu den Streitfragen im Verhältnis zwischen Kaiser und Papst bereitzustellen; für eine Veröffentlichung war dieses Werkzeug nie bestimmt. 2016 hat L. T. die Vermutung formuliert, dass die Initiative zur Zusammenstellung der CA auf Cassiodor selbst zurückgehe und auf die Zeit um das Jahr 550 zu datieren sei, als er sich zusammen mit Papst Vigilius in Konstantinopel aufhielt. Diese Hypothese erhält starke Unterstützung – auch wenn sie zugegebenermaßen eine Hypothese bleibt – durch die gründliche Studie von Pierfrancesco Porena (S. 35–72) über das „zweite Leben“ Cassiodors, nachdem er sich aus den Staatsgeschäften zurückgezogen und als vir religiosus seine Erfahrung in den Dienst Papst Vigiliusʼ gestellt hatte, der durch den Dreikapitelstreit beansprucht war. Wenn man annimmt, dass das Material aus den römischen Archiven genau im Blick auf den Dreikapitelstreit gesammelt wurde, muss man für die Entstehung der CA sogar ein früheres Datum annehmen, nämlich die Jahre 545–547; in Konstantinopel wurde dann nur noch das Constitutum des Vigilius von 553 hinzugefügt. Die Untersuchung der Paratexte im Vat. lat. 3787 durch Serena Ammirati (S. 101–108) legt nahe, dass die Sammlung von Materialien kaiserlichen Ursprungs, die etwa ein Viertel des Gesamttextes ausmacht, schon in einer Abschrift vorlag. Das erlaubt zwar noch keine Entscheidung in der Frage, ob die CA des 6. Jh. sich schon in der Gestalt darstellte, wie man sie heute kennt, oder ob die Hss. aus corpuscula unterschiedlichen Ursprungs zusammengestellt wurden – die Meinungen sind geteilt, vgl. Paola Paolucci (S. 73–84) und Tommaso Mari (S. 85–100) –, aber es wirft neues Licht auf die Überlieferung der Texte. Giulia Marconi (S. 109–131) zeigt, dass der neuerliche Gebrauch der CA Ende des 11. Jh. anders, als bisher allgemein angenommen, nicht durch Petrus Damiani angestoßen wurde – in seinen Werken finden sich keinerlei Spuren der Sammlung –, sondern durch Anselm von Lucca. Die im Titel des Sammelbandes genannten Praktiken des Notariats verteilen sich auf die Senatsaristokratie und den Kaiserhof auf der einen und die Herausbildung der kirchlichen Kanzlei auf der anderen Seite. Die 15 Beiträge, die diesem Thema gewidmet sind und von denen viele sich mehr mit den Amtsträgern (notarii, exceptores, Tachygraphen) beschäftigen als mit ihrer Arbeit, behandeln zwar nicht die CA, verhelfen aber anhand der vorgestellten Fallbeispiele zu einem besseren Verständnis dieses Umfelds im 6.–8. Jh. in institutioneller, sozialer und kultureller Hinsicht. Für Mediävisten sind vor allem zwei Studien interessant. Dario Internullo (S. 297–322) verfolgt die Tätigkeit der ravennatischen exceptores, „Gerichtsstenographen“, bis um die Mitte des 7. Jh. aus quellenkundlicher und paläographischer Sicht. Der Titel exceptor wurde bis ins 10. Jh. gebraucht und bezeichnet eine Elite unter den Verfassern von Privaturkunden. Elena Caliri (S. 453–473) befasst sich mit den notarii, die im Register Gregors d. Gr. erwähnt werden, als Schreiber und als Verwaltungsfachleute. In den etwa 14 Jahren seines Pontifikats erscheinen 25 Personen, die schon spätestens seit den 520er-Jahren in einer schola organisiert waren. Wieweit sie in der Abfassung der Briefe autonom waren, bleibt strittig; jedenfalls gingen ihre Aufgaben weit über den Rahmen des scrinium hinaus und hatten allgemein mit der Verwaltung des patrimonium sancti Petri zu tun. Nicht weniger als sieben Notaren wurde diese mit dem Titel eines rector direkt übertragen. In der CA ist das Notariat kaum vertreten: neun notarii, kein einziger exceptor. Und diese hochgestellten Persönlichkeiten erscheinen dort weniger in ihrer Funktion bei der Niederschrift von Dokumenten als in der Rolle von Vermittlern und Diplomaten (Juana Torres, S. 477–491, und Alexander Evers, S. 493–506). Besondere Erwähnung verdient der wichtige prosopographische Aufsatz von Noel Lenski (S. 507–563) über die Überbringer von Briefen, die in der CA sichtbar werden: Dokumentiert sind 47 Kleriker und 20 königliche Amtsträger, die in den Jahren 419–553 insgesamt 89 Sendungen übermittelt haben. Von Buch zu Buch nähert sich die Forschung der CA immer dichter, und jede Neuerscheinung ist auch eine Vorarbeit für eine neue kritische Edition der CA.

François Bougard (Übers. V. L.)