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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 80,2 (2024) *.

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Liberté de parole. Les élites savantes et la critique des pouvoirs, Orient et Occident, VIIIe–XIIIe siècle, sous la direction de Makram Abbès / Marie-Céline Isaïa (Bibliothèque d’histoire culturelle du Moyen Âge 23) Turnhout 2022, Brepols, 445 S., Abb., ISBN 978-2-503-59726-3, EUR 95. – Das Buch (hervorgegangen aus einem Colloquium der École Normale Supérieure de Lyon 2016) widmet sich einem stets aktuellen Thema, nämlich dem freien Wort (parrhesia), und konzentriert sich auf den Zeitraum zwischen dem 8. und dem 13. Jh. Die Darstellung ist als Ganzes und in den einzelnen Beiträgen höchst anspruchsvoll gestaltet und von hohem intellektuellen und wissenschaftlichen Niveau. Dem Band gelingt es, unter dem Titelbegriff die westliche und östliche christliche Welt sowie den Islam in globaler Sicht zu vereinen. Dieses Ergebnis wird ermöglicht mittels einer planvollen und geschickten Gliederung, die von systematisch gestalteten Querschnitten bestimmt ist und somit problemlos zu einer komparativen Sicht führt. Es fehlen die gerade bei dieser Thematik oftmals gequälten Definitionen und künstlich wirkendes Theorisieren. Nach einem Überblick über frühere Jahrhunderte (4.–9. Jh.), der immerhin 30 Seiten umfasst (Marie-Céline Isaïa, S. 25–52), und einem wissenschaftsgeschichtlichen Blick auf die Moderne (Michel Senellart, S. 9–23) zu Erik Peterson und Michel Foucault werden in einem ersten Abschnitt als „Porte-paroles“ drei Persönlichkeiten (Theodoros Studites durch Vincent Déroche, S. 93–104; Petrus von Blois durch Maïté Billoré, S. 125–157; Salimbene de Adam durch Gisèle Besson, S. 159–186) und zwei anonyme Werke (Kalila und Dimna durch Makram Abbès, S. 55–92; samanidische Fürstenspiegel durch Louise Marlow, S. 105–123) vorgestellt. Der zweite Abschnitt handelt von Texten bestimmter literarischer Genera, um Mittel des Ausdrucks und des Stils zu demonstrieren. Dies geschieht anhand von fünf konkreten Beispielen (Mohamed Ben Mansour, S. 189–212, zur abbasidischen Poesie; Giacomo Vignodelli, S. 213–241, zur postkarolingischen Satire; João Vicente de Medeiros Publio Dias, S. 243–264, zur byzantinischen Kaiserrhetorik; Leidulf Melve, S. 265–280, zu Streitschriften des Investiturstreits; Vanessa Van Renterghem, S. 281–310, zu Rat und Ermahnung an arabische Herrscher), die als philologische und literarische Exempel vereinender und trennender Komponenten in den drei Kulturzonen dienen. Ein gemeinsames Kennzeichen aller Texte, die unter dem Begriff parrhesia vereint werden, ist in mehr oder minder deutlichem Umfang der Aspekt der Kritik. Mit dieser Kritik als politisch-historischer Komponente befassen sich die fünf Beiträge des dritten Abschnitts. Sie behandeln ganz unterschiedliche Formen politischer Kritik im christlichen und arabischen Raum (Warren Pezé, S. 313–343, über Ermahnungen an Karl d. Kahlen; Rosa Benoit-Meggenis, S. 345–360, über Mönchskritik am byzantinischen Staat; Neguin Yavari, S. 361–376, über politisch-religiöse Kritik an seldschukischen Sultanen; Benjamin Bourgeois, S. 377–389, über Kritik am armenischen Königtum; Olivier Brisville-Fertin, S. 391–410, über Autorität und Stellung der Richter im omayyadischen Spanien). Der Band stellt keine leichte Lektüre dar, sowohl in seiner Gesamtschau als auch in den fachspezifischen Beiträgen. Kein Leser wird alle drei Kulturbereiche, die vage unter einem ma. Dach stehen (bei aller inzwischen erkannten Problematik auch dieses Begriffs), gleichermaßen einschätzen können. Der Rez. empfiehlt daher, als Einführung die Zusammenfassung (die ein eigenständiges Kapitel ausmacht) von Bénoît Grévin / Annick Peters-Custot (S. 411–426) zu lesen. Die beiden schaffen eine sichere Basis, auf der sich die einzelnen Beiträge besser einordnen und verstehen lassen, und machen das Buch zu einem in seiner Art einzigartigen Instrument, um beispielhaft Möglichkeiten und Grenzen der Kritik in der religiös und ideologisch geprägten Welt des islamisch-christlichen MA kennen zu lernen.

Peter Schreiner