DA-Rezensionen online

Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 80,2 (2024) *.

Sie bleibt nach Erscheinen der Printausgabe online verfügbar.

Marie Bassano, De maître à élève. Enseigner le droit à Orléans (c. 1230–c. 1320). Avec un avant-propos de Corinne Leveleux-Teixeira (Medieval Law and Its Practice 37) Leiden 2023, Brill, XVII u. 748 S., ISBN 978-90-04-21223-7, EUR 243, 96. – Es handelt sich um die überarbeitete Version einer 2008 an der Univ. Paris II abgeschlossenen rechtshistorischen Diss. zum juristischen Lehrbetrieb in Orléans. 1235 erlaubte Papst Gregor IX. dort die freie Abhaltung juristischer Lehre. 1306 erfolgte die Anerkennung des institutionellen Status als Universität. Nach einem vierjährigen Exil in Nevers kehrte die Universität 1320 wieder nach Orléans zurück. Aus Sicht der Vf. handelt es sich hier um einen entscheidenden Einschnitt: Zuvor hatte ein erheblicher Teil der Universitätsangehörigen den Weg in hohe Ämter der königlichen Verwaltung und der Kirche beschritten, nun wuchs die Bedeutung inneruniversitärer Karrieren. Zu Beginn des 14. Jh. erfolgte ein Niedergang (S. 2). Von Einleitung und Zusammenfassung umrahmt, gliedert sich die Darstellung in zwei große Teile mit insgesamt sieben Kapiteln. Hinzu kommen umfangreiche Anhänge mit wichtigen Zusatzinformationen wie biographischen Kurznotizen zu ca. 220 Lehrenden und Studenten (1230–1343, Annexe 1) und eine Liste ihrer Werke (1230–1320, Annexe 2). Die Einleitung präsentiert Rahmenbedingungen von Lehrbetrieb und Studium: den Grund der Ortswahl; die Ankunft ‘fremder’, sehr häufig in Bologna ausgebildeter Angehöriger der Gründergeneration; die sich ausdifferenzierende räumliche und personelle Organisation des studium (Gebäude, Zusammenschlüsse von Lehrenden und Studenten, Studiendauer, Ordnung des Unterrichtsbetriebs, kalendarischer Ablauf). Im ersten Teil stehen Lehr-, Lernmethoden und Unterrichtsformen (disputatio, quaestio, repetitio, lectura usw.) im Vordergrund. Dabei spielten Sprache und Semantik eine wichtige Rolle (z.B. Beziehungen von verba legis, mens legis und ratio legis), ebenso Argumentationsformen wie Syllogismen, Analogieschlüsse, Distinktionen und spezifisch juristisches logisches Denken. Im zweiten, der Ausbildung künftiger Amtsträger für die Verwaltung gewidmeten Teil geht es um die Entstehung von Lehrmeinungen, Rivalitäten zwischen akademischen Disziplinen (Zivilrecht, kanonisches Recht, Theologie), die generationsübergreifende Weitergabe und Modifizierung juristischer Lehrsätze und, am Ende, um die Frage, inwieweit in Orléans im Untersuchungszeitraum bereits eine Theoriebildung auf dem Gebiet des entstehenden öffentlichen Rechts stattfand. Im Ergebnis erkennt die Vf. erste Ansätze dazu, betont aber deren noch stark fluktuierenden Charakter. Es sei möglich, für Orléans von einer Schulbildung zu sprechen. Zu den örtlichen Besonderheiten gehörte die große Bedeutung der Einbeziehung der Rechtspraxis und der Vorstellung von praktischen Falllösungen im Unterricht. Unter den Lehrenden befanden sich herausragende Juristen wie Jacques de Révigny und Pierre de Belleperche. Zahlreiche Mitglieder der Universität waren wichtige Berater des französischen Königs und an bedeutenden diplomatischen Missionen und Friedensverhandlungen beteiligt. Die mehrstufige, generationsübergreifende Wissensvermittlung, „de maître à l’élève“, fand in Orléans damals auch über Hinweise der Rechtslehrer zu Aussagen des dominus domini mei ... statt. Dennoch entwickelten sich Neuansätze. Der Umgang mit den Schriften der Vorgänger und der Glossa ordinaria war durchaus kritisch. Man suchte kontinuierlich den Rückbezug und die Überprüfung am Text des Corpus Iuris und fragte nach der Vereinbarkeit der überlieferten Begrifflichkeit und Interpretation mit der eigenen historischen Realität. Insgesamt handelt es sich um ein sehr informatives und interessantes Buch, das sowohl Rechts- als auch Universitätshistoriker anspricht und durch seine ausführlichen Anhänge auch Nachschlagemöglichkeiten eröffnet.

Gisela Naegle