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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 80,2 (2024) *.

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Anna Grzymała-Busse, Sacred Foundations. The Religious and Medieval Roots of the European State, Princeton, NJ, 2023, Princeton Univ. Press, 235 S., 20 Abb., ISBN 978-0-691-24507-2, USD 99,95. – Die Entstehung des modernen Staates in Europa nicht aus (früh-)neuzeitlichen, sondern aus ma. Gegebenheiten zu erklären, ist das Ziel dieses Bandes. Die Vf., Professorin für International Studies in Princeton, verwirft dabei zugleich Ansätze, die die Entstehung des modernen Staates aus dem Krieg bzw. aus Aushandlungsprozessen erklären möchten – oder erklärt sie doch zum mindesten für unterkomplex. Stattdessen rekurriert sie statt auf Modelle von Herrschaftslegitimation auf die Entwicklung von Institutionen, und dieser Blick prägt die großen inhaltlichen Kapitel, die sich nach einer allgemeinen Einleitung und den „Medieval Settings“ vier großen Bereichen widmen: „Rivalry and Fragmentation“, „Governing Institutions“, „Law and Learning“ sowie „Parliaments and Representation“. Das Ma. in diesen Bereichen zu beschreiben, ist für die Vf. gleichbedeutend mit einer Beschreibung der religiösen bzw. kirchlichen Grundlagen. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich die Vf. hauptsächlich für das Hoch- und Spät-MA interessiert. Die Stärke ihrer Studie liegt darin, dass sie thematische Schneisen durch eine enorme Menge an Material schlägt, die für das – zweifellos gut nachvollziehbare – Argument des Buchs hilfreich sind. Ihre große Schwäche besteht zugleich darin, dass sie häufig in handbuchartiger Manier bei der Feststellung von Fakten stehenbleibt, ohne Motive näher auszuleuchten. So wird etwa der Konflikt Papst Bonifatius’ VIII. mit den Königen von Frankreich und England auf die Frage nach der staatlichen Souveränität reduziert, die Konflikte innerhalb Roms (v.a. mit Sciarra Colonna) und das Selbstverständnis des Papstes als absolut heilsrelevant spielen keine Rolle. Die Fragmentierung Europas (und insbesondere des Reichs) in nachkarolingischer Zeit erscheint einzig als das Resultat einer zielgerichteten päpstlichen Machtpolitik, wobei etwa die zentrifugalen politischen Kräfte des Spät-MA seit dem Interregnum zwar erwähnt, aber nicht näher erläutert werden; die Idee des landesherrlichen Kirchenregiments im 15. und 16. Jh. wird gar völlig ausgeblendet. Ob solch eine planvolle päpstliche Politik unter ma. Bedingungen überhaupt möglich gewesen wäre, wird ebenso wenig hinterfragt wie die der Darstellung zugrundeliegende Normvorstellung eines größeren Zentral- oder Bundesstaats. Dass zudem unter den geistlichen Maßnahmen, die den Päpsten für ihre Politik zur Verfügung standen, nur die Exkommunikation erwähnt wird, nicht aber das Interdikt, lässt sich nicht nur als Manko konstatieren, sondern als generelles Indiz: Das Buch reflektiert generell nicht, welchen Beitrag die Frömmigkeit einer „büßenden Gesellschaft“ (Bernhard Jussen) zu all diesen Prozessen leistete. Auch an sachlichen Fehlern bzw. Ungenauigkeiten mangelt es nicht, u.a. waren die Bischöfe sicherlich keine „papal deputies“ (S. 32), stimmen die Karten 1.1 und 1.3 nicht miteinander und auch nicht mit dem Haupttext überein (vermutlich sind mit den „cathedrals“ Kathedralschulen gemeint, dann aber bildet die Karte S. 37 nur eine Auswahl ab) und stellten die Konzilien von Konstanz und Basel nicht einfach den Frieden wieder her (S. 72); zudem lag eine geistliche Führungsrolle nach 1450 nicht ausschließlich bei den Päpsten, wie der Text suggeriert (S. 73). Zu konstatieren ist darüber hinaus, dass die Vf. ausschließlich englischsprachige Literatur rezipiert hat, so dass der Beschreibung der Ursprünge des europäischen Staates just die europäischen Perspektiven empfindlich fehlen (z.B. zum Konzept der Repräsentation). So bleibt am Ende der Eindruck eines Buchs, das zwar eine überzeugende These aufstellt, sie aber bedauerlicherweise aufgrund mangelnder Präzision und Quellennähe nicht ebenso überzeugend argumentativ zu vertreten vermag. Die ma. Ursprünge des neuzeitlichen europäischen Staatswesens und die Einflüsse des Christentums auf seine Entwicklung wird man nicht ernsthaft leugnen können. Insofern lädt die Argumentation des Buchs über ihr eigentliches politikwissenschaftliches Zielpublikum hinaus auch „säkulare“ Mediävisten ein, sich mit diesen christlichen Wurzeln detaillierter zu beschäftigen.

Bernward Schmidt

(Rezensiert von: Bernward Schmidt, Eichstätt)