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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 80,2 (2024) *.

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Werner Paravicini, Verlust und Dauer. Weshalb sie nicht mehr fuhren und was an die Stelle trat: Die Preußenreisen des europäischen Adels, Teil 4 (Vestigia Prussica 4) Göttingen 2024, V&R unipress, 596 S., 40 Tabellen, ISBN 978-3-8471-1656-1, EUR 75. – Es handelt sich um den vierten und bislang letzten Teil von P.s fundamentaler Darstellung der Preußenreisen des spätma. europäischen Adels. Der erste Band erschien 1989 (vgl. DA 47, 292f.), dieser letzte 2024: Dieses Opus maximum umfasst also eine Zeitspanne von 35 Jahren und damit ein halbes, überaus fleißiges professorales Arbeitsleben! Der vierte Teil behandelt erwartungsgemäß die Erklärung für das Ende der Preußenreisen. Zudem liefert er den nötigen Ausblick, was an ihre Stelle trat. Nach dem Vorwort (S. 9–11) und einer knappen Einleitung (S. 13f.), die als Amuse gueule schon präzise das Resultat der folgenden 600 Seiten liefert: „Die Antwort nach den [sic] tiefsten Grund des Endes scheint auf der Hand zu liegen. Er kann nur darin bestehen, dass wegfiel, was ehemals dazu geführt hatte, dass man fuhr“ (S. 14), behandelt der Vf. zunächst die fortschreitende Christianisierung Litauens („der Orden verliert seine Heiden“, S. 15–52), dann „schwere Erbschaften“, was die polnische Feindschaft, die Gegenwehr Litauens und auch Rigas Widerstand gegenüber dem Orden meint (S. 53–61), und drittens im überhaupt längsten Kapitel des Bandes den langwierigen „Kampf um die öffentliche Meinung“ mit den verschiedenen königlichen Schiedssprüchen, der Intervention der Kurie, den wechselhaften Ereignissen auf dem Konstanzer Konzil und der vielschichtigen Propaganda des Ordens in Westeuropa und im Reich (S. 63–350). Das vierte Kapitel thematisiert die „Wandlungen des Ordens im 15. Jahrhundert“ (S. 351–441), konkret dessen Ansehens-, Finanz-, Herrschafts- und Legitimitätskrise, an deren Ende sich eine neue Legitimität des Ordens als Werk, Besitz und Spital des deutschen(!) Adels herauskristallisierte. Im Anschluss schaut P. fünftens auf die alten und neuen Ziele des nach wie vor ausziehenden Adels: Preußen, wo sich die überkommene Heidenfahrt zum Soldzug wandelte, Nikopolis und Azincourt als die zentralen Schlachtorte des 14. Jh., Böhmens Hussiten, Livland mit Russen und Tataren als Gegnern, das von Arabern und Osmanen unsicher gemachte Mittelmeer (S. 443–496). Knapp und präzise sechstens das Fazit, weshalb sie nicht mehr fuhren (S. 497f.): „Ohne Heiden keine Preußenfahrt“. Und siebtens und letztens P.s retardierende Rückschau als vielleicht wichtigster Abschnitt dieses Bandes oder des gesamten Buchquartetts: „Die Preußenreisen: Vom Erkenntniswert einer Randerscheinung“ (S. 499–520). Hier kommt er nochmals auf die von ihm neu entdeckten Quellen, untersuchte Themen wie die Wege durch Europa, den Treffpunkt Königsberg, den Zahlungsverkehr im Hanseraum, die Begegnung von Ost und West, die anfängliche und gegenüber jeder späteren nationalen Vereinnahmung in scharfem Kontrast stehende Internationalität des Ordens und den fundamentalen Wandel im 14. Jh., dem „ritterlichsten aller Jahrhunderte des europäischen Mittelalters“ (S. 520), zu sprechen. Klare, „von der Anwandlung eines rückwärtsgewandten Moralismus befreite“ und im übertragenen Sinn ganz aktuelle Worte findet P. über den Adel der Zeit: „Es gibt eine dunkle Seite der Adelsgeschichte, die mit allem Ernst gesucht und beschrieben werden sollte. Wir dürfen uns nicht blenden lassen durch malerische Burgen, fromme Stiftungen, große Kunst und anrührende Ritterromane. Letzten Endes geht es immer um herrenmäßige Existenz in Gemeinschaft mit und Konkurrenz zu den Menschen gleichen und höheren Ranges“ (S. 501). Ein Verzeichnis der gezeigten Tabellen – bei denen es sich genau genommen gar nicht immer um Tabellen handelt – (S. 521f.) und ein vom Umfang her beachtliches Verzeichnis der herangezogenen Literatur (S. 527–596) beschließen den Band. Ein hilfreiches Register der Namen und Orte sucht man vergebens. Von vorn bis hinten ist dieser neue, vierte Teil mit seiner gründlichen Textredaktion, seiner übersichtlichen Gestaltung und seiner klar argumentierenden Darstellung lesenswert. In diesem Sinne freut man sich nun auf die Teile 5 und 6, die der beharrlich nachsetzende P. mit sprichwörtlich preußischer Disziplin ausweislich seines Vorworts (S. 9) bereits fest im Blick hat.

Oliver Auge

(Rezensiert von: Oliver Auge, Kiel)