Die Dukate des Merowingerreiches. Archäologie und Geschichte in vergleichender Perspektive, hg. von Sebastian Brather (Ergänzungsbde. zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 139) Berlin / Boston 2023, De Gruyter, IX und 560 S., ISBN 978-3-11-109554-7, EUR 139,95. – Der Sammelband vereint die Beiträge einer von dem Forschungsverbund „Archäologie und Geschichte des ersten Jahrtausends in Südwestdeutschland“ im November 2018 in Freiburg abgehaltenen interdisziplinären Tagung. Gegenstand ist eine systematische vergleichende Betrachtung der Dukate des merowingischen Frankenreichs (und des angrenzenden Italien) eingedenk ihrer römischen Vorgänger, die ausweislich der Notitia dignitatum als politisch-militärische Organisationsform überall an der Peripherie des spätantiken Imperium Romanum anzutreffen waren. Untersucht werden aus interdisziplinärer Perspektive Kontinuitäten (und Diskontinuitäten) infrastruktureller, politischer, administrativer, militärischer und räumlicher Natur, die von spätrömischer bis in merowingische Zeit reichen. Als methodisch-theoretisches Herzstück und Ausgangspunkt für alle weiterführenden Betrachtungen kann der Beitrag von Stefan Esders (S. 9–30) gelten, der bereits mit Arbeiten zum bairischen Dukat hervorgetreten ist. Ausgehend von seiner Beobachtung, dass für die spätrömischen Dukate keine direkten Kontinuitäten im nachrömischen Westen postuliert werden könnten, da nach dem Zusammenbruch des weströmischen Reichs und seines Verteidigungssystems in den Nachfolgereichen aufgrund neuer militärischer Anforderungen eine militärische Reorganisation und strategische Neuausrichtung der Grenzverteidigung erforderlich gewesen sei – was jedoch nicht ausschließe, dass noch vorhandene römische ‘Substrukturen’ (Infrastruktur, Institutionen, Ressourcen) weiter genutzt wurden –, plädiert E. dafür, die Entstehung der merowingischen Dukate konzeptionell neu zu fassen, indem nach Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten funktionaler Zusammenhänge in ihrer spezifischen historischen Bedingtheit gefragt werde. Angesichts der Vielschichtigkeit und Komplexität dieser Frage sei es notwendig, „für jeden Dukat“ gesondert „eine andere Entstehungs-, Funktions- und Kontinuitäts- bzw. Diskontinuitätsgeschichte zu erzählen“ (S. 23). Ausgehend von diesem Postulat nehmen die einzelnen Beiträge aus historischer und archäologischer Warte duces und ducatus sowohl innerhalb (Hans-Werner Goetz, S. 105–171; Jean François Boyer, S. 173–198; Roland Prien, S. 199–218) als auch an der Peripherie des Merowingerreichs – Alamannien (Dieter Geuenich / Thomas Zotz, S. 221–236; Sebastian Brather, S. 237–270; Heiko Steuer, S. 271–296), Baiern (Irmtraut Heitmeier, S. 297–360; Hubert Fehr, S. 361–396), Thüringen und Mainfranken (Mathias Kälble, S. 397–420; Jan Bemmann, S. 421–458), Raetien (Sebastian Scholz, S. 461–472), Jura (Amanda Gabriel, S. 473–484) – sowie im benachbarten langobardischen Italien (Marcus Zagermann, S. 485–513; Walter Pohl, S. 515–538) in den Blick. Diesen Detailstudien sind Beiträge von Michael Zerjadtke (S. 33–64) und Alexander Heising (S. 65–102) vorangestellt, die mit duces im gallischen Westgotenreich und dem spätrömischen ducatus Mogontiacensis an der Rheingrenze spätantike Voraussetzungen für die merowingischen Dukate behandeln, um eine Kontrastfolie zu generieren, vor der sich Kontinuitäten und Diskontinuitäten nachzeichnen lassen. Abgerundet wird der Band durch Steffen Patzolds (S. 539–550) konzise Synthese und Einordnung der einzelnen Beträge in die übergeordnete Fragestellung nebst einer Diskussion methodischer Zugriffsweisen. Den Beiträgen ist gemein, dass sie eine terminologisch-semantische Elastizität der Begriffe dux und ducatus in der Überlieferung betonen und zu der Feststellung gelangen, dass aufgrund des tiefgreifenden politischen und strukturellen Wandels, den der Niedergang des Imperium Romanum im Westen mit sich gebracht hatte, keine bruchlose Fortsetzung spätrömischer Militärbezirke in merowingischer Zeit zu beobachten sei. Dennoch hätten vorhandene römische ‘Substrukturen’ allerorten fortgewirkt, indem sie Ressourcen bereitstellten, welche vielerorts die Grundlagen dukaler Administration und Herrschaft bildeten (in Baiern, Raetien, Italien). In diesem Zusammenhang überraschend ist das Ergebnis des Beitrags von Brather, nach dem selbst in der rechtsrheinischen Alamannia, einem Gebiet, das von Rom bereits im 3. Jh. aufgegeben worden war, römische ‘Substrukturen’ (Verkehrs- und Kommunikationsrouten, Siedlungs- und Wirtschaftsräume) den frühma. Dukat organisierten. In Thüringen, das zu keinem Zeitpunkt Teil der römischen Welt gewesen ist, konnten die merowingischen duces hingegen nicht an römische ‘Substrukturen’ anknüpfen, sondern waren in der Ausübung ihres Amtes – vornehmlich die Sicherung der Reichsgrenzen – auf bestehende gentile Machtstrukturen, d. h. auf die Kooperation regionaler Eliten angewiesen, wie Kälble eindrücklich darlegt. Insofern ist die vergleichende Untersuchung von ‘Substrukturen’ und deren Kontinuitäten in ihren jeweiligen regional-lokalen funktionalen Zusammenhängen ein vielversprechender methodischer Ansatz, um Entstehung und Fortentwicklung frühma. Dukate besser zu verstehen. Neben der Feststellung, dass es sich bei jedem einzelnen Dukat des merowingischen Frankenreichs um das Produkt einer konkreten historischen Situation handelt, maßgeblich beeinflusst von regionalen Eigenheiten, muss als weiteres und vielleicht wichtigstes Ergebnis des Bandes gelten, dass die Dukate ihre raumstrukturierende und identitätsstiftende Wirkung als Amtsbezirke entfalteten. So seien zwar für die Alamannia seit dem 6. Jh. duces bezeugt, die Raumbezeichnung eines ducatus Alamanniae begegne hingegen erst im 8. Jh. (S. 221). Die Erkenntnis der Korrelation von Raum und Administration und die damit einhergehende Neubewertung, wonach die Dukate des Merowingerreichs nicht als ethnisch definierte Einheiten, sondern vorrangig als politisch-administrative Räume aufzufassen seien, bedeutet in der Tat einen Paradigmenwechsel.
Christian Stadermann
(Rezensiert von: Christian Stadermann)