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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 80,2 (2024) *.

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Genealogisches Wissen in Mittelalter und Früher Neuzeit. Konstruktion – Darstellung – Rezeption, hg. von Giuseppe Cusa / Thomas Dorfner (Wissenskulturen und ihre Praktiken 16) Berlin / Boston 2023, De Gruyter, XI u. 389 S., Abb., ISBN 978-3-11-079304-8, EUR 79,95. – Seit Beginn der 2000er Jahre ist die Erkenntnis gereift, dass sich die Auseinandersetzung mit Genealogie nicht auf die Herstellung von Stammbäumen und Ahnentafeln auf der Basis vorhandenen oder behaupteten Wissens beschränken kann, sondern ebenso die Materialität und (Inter-)Medialität, die Vermarktung, Rezeption und Intertextualität genealogischer Produkte mit einbeziehen muss. Der Sammelband stellt genau diese Postulate in den Mittelpunkt. Ausgehend von der These, dass genealogisches Wissen in der Vormoderne eine vielfach umkämpfte Ressource war, nähern sich die 13 Vf. in drei Sektionen dem gemeinsamen Thema auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Im Mittelpunkt stehen dabei (1) die Herstellung genealogischen Wissens durch nichtadlige Akteure, (2) die Darstellung genealogischen Wissens in der Historiographie, (3) seine Medialität und Materialität sowie (4) seine Inszenierung und Rezeption. Neben dem dafür weithin bekannten Adel, dem im Lauf der frühen Neuzeit die Deutungshoheit über seine Abstammung zugunsten von akademisch gebildeten Berufsgenealogen auf einem sich rasant verändernden (kommerzialisierten) Buchmarkt zu entgleiten drohte, werden mit Angehörigen der reichsstädtischen Handwerkerschaft und mit Ordensmitgliedern verschiedene gesellschaftliche Gruppen mitsamt ihren genealogischen Strategien betrachtet, die sonst eher abseits des Interesses am Thema stehen. Fast allen Beiträgen gemein ist die Erkenntnis, dass die Recherche, Auswahl, Darstellung (z.B. Codex oder Rollenformat) und Vermittlung genealogischer Details stets nicht nur von der vorhandenen Überlieferungssituation solcher Details abhing, sondern ebenso sehr von den Interessen und Intentionen ihrer Ersteller oder Auftraggeber geprägt und somit hochgradig selektiv und teilweise manipulativ war. Genealogische, heraldische und historiographische Elemente wurden dabei je nach Zielsetzung unterschiedlich stark miteinander verknüpft. Sowohl im Adel als auch in anderen gesellschaftlichen Gruppen wurde auf diese Weise Stadt- und Familiengeschichte miteinander verwoben, um die Bedeutung der eigenen Vorfahren zu unterstreichen. Vielfach handelte es sich bei diesen Projekten um ‘works in progress’, die später – von gleicher oder anderer Hand – fortgesetzt wurden. Epochen- und länderübergreifend vereint die Publikation eine beachtliche Bandbreite europäischer Regionen und wirft in diesem Kontext auch Schlaglichter auf Gebiete wie die frühneuzeitliche Walachei (Marian Coman, S. 335–362), wo selbst dem Adel „the language of genealogy“, die man in Westeuropa sprach, vollkommen fremd war (S. 358). Genealogie wird im Band als dehnbarer Begriff verstanden und in der ganzen Breite ihres Spektrums und darüber hinaus angewandt: In den Beiträgen von Oleksii Rudenko (S. 159–182) und Angana Moitra (S. 363–378) etwa spielt sie nur eine marginale Rolle, denn es geht um die Herkunft ganzer Völker (Polen und Litauer, „the ... genealogy of their people“, S. 178), um Gründervorfahren, die nicht einmal einen Namen, geschweige denn eine Abstammungslinie haben, oder gar um die propagierte Abstammung von Fabelwesen (Feen) und mythischen Figuren wie Artus und Melusine, durch die sich u.a. die englische Tudorkönigin Elisabeth I. als „supernatural imperatrix“ (S. 371) inszenierte. Es überrascht, dass genderspezifische Aspekte der Herrschaft Elisabeths und deren durch ihr Geschlecht noch gesteigerter Legitimationszwang (es geht nicht nur um den Herrschaftsanspruch ihrer Dynastie, sondern um die fragile Rechtmäßigkeit weiblicher Herrschaft) in dem Beitrag nahezu komplett ausgeblendet sind; die These, dass Elisabeths Abstammung gerade deshalb mit märchenhaften Elementen und mit explizit weiblichen Fabelwesen angereichert wurde („The Faerie Queene“), findet keine Beachtung. Auf die Ahnenproben, die die Medien frühneuzeitlicher Funeralkultur zierten (Michael Hecht, S. 213–243), stützten sich vor allem die Nachkommen der Verstorbenen mit ihren familiären, besitz- und erbrechtlichen Interessen – sie waren in den meisten Fällen sowohl zahlende Auftraggeber als auch Profiteure der auf diesem Weg festgeschriebenen und übermittelten Informationen. Die Rolle und die Absichten nicht der Verstorbenen, sondern der Hinterbliebenen, die dabei mangels externer Kontrolle „große Spielräume“ (S. 232f.) nutzten, sollten in diesem Kontext daher noch stärker herausgearbeitet werden (kurze Erwähnung auf S. 219 und 223). Die Hg. greifen in ihrer Einleitung etablierte Definitionen von Wissen auf, etwa dessen Anerkennung durch die Zeitgenossen. Diese konzeptuelle Herangehensweise an den modischen Titelbegriff, gerade in Abgrenzung zur ‘Information’, setzt sich in den Beiträgen kaum fort; die Bezeichnungen werden relativ unreflektiert und beliebig verwendet (Ausnahme: Julia Bruch, S. 61–86, über von Handwerkern verfasste Chroniken), eine wirkliche begriffliche Auseinandersetzung erfolgt kaum. Abgesehen davon sind sie durchaus in der Lage, die Relevanz und Bandbreite genealogischer Arbeit und Vermarktung in der Vormoderne zu unterstreichen und so auch das Verständnis dieses mediävistisch-frühneuzeitlichen Schlüsselbegriffs zu schärfen.

Andreas Flurschütz da Cruz

(Rezensiert von: Andreas Flurschütz da Cruz)