Books of Knowledge in Late Medieval Europe: Circulation and Reception of Popular Texts, ed. by Pavlína Cermanová / Václav Žůrek (Utrecht Studies in medieval literacy 52) Turnhout 2021, Brepols, XIII u. 376 S., Abb., ISBN 978-2-503-59463-7, EUR 100. – Der Sammelband ist das Resultat einer gleichnamigen Tagung im Centre for Medieval Studies der Univ. Prag von 2018, und diese war wiederum integraler Bestandteil eines von der Czech Science Foundation geförderten Forschungsprojekts „Transfer of Knowlege. The Fortune of Four Best-sellers in Late Medieval Czech Lands“. Die Mehrzahl der insgesamt 13 Beiträge stammt von tschechischen Mediävisten (acht Texte). Die Beiträge werden von einer kurzen Einführung der Hg. (S. 1–9) und Indices der Namen und der Hss. am Schluss gerahmt. Ein abschließender reflektierender Artikel fehlt – die Zusammenfassungen sind bereits in Form von kurzen Abstracts in der Einführung (S. 6–9) enthalten. Generell unterscheiden die Hg. „books of knowledge“ als (erst zu etablierenden) Forschungsbegriff von „handbooks“ und „textbooks“ (S. 3), sehen im verwendeten Terminus u.a. den Vorteil der Gattungsbreite: „The definition of this category is the result of a combination of several criteria: content, function, authorial intent, but also (user) reception“ (ebd.). Ein Kriterium soll also auch die Rezeption oder der Erfolg des jeweiligen Werks sein (explizit oft mit dem Begriff „best-seller“ umschrieben). Dafür solle man nicht nur die Zahl der überlieferten Hss. werten, sondern auch „the cultural role manuscripts played“ (S. 5). Wie wird das in den Beiträgen eingelöst? Als zentral ist der einführende Beitrag von Steven J. Williams (S. 11–34) über den pseudo-aristotelischen Text Secretum secretorum hervorzuheben, der sich sehr um eine exakte Kategorisierung und Präzisierung des Terminus „book of knowledge“ bemüht (S. 12–19, 28–34), ihm aber auch mit einer Portion Skepsis begegnet (S. 12). Julia Burkhardt (S. 35–57) zum Bonum universale de apibus des Thomas von Cantimpré konzentriert sich auf die Verbreitung des Texts im bayerischen, österreichischen, böhmischen und schlesischen Raum und kann mittels computergestützter Stemmatologie drei Untergruppen festmachen, welche Hinweise auf regionale Netzwerke von Klostergemeinschaften geben. Václav Žůrek (S. 59–83) über den Liber de moribus hominum et officiis nobilium ac popularium super ludo scacchorum des Jacobus de Cessolis arbeitet heraus, dass die 24 böhmischen Abschriften durchweg eine textliche Vereinfachung (durch Auslassungen usw.) aufzeigen, was darauf hinweist, dass das spätma. Publikum in Böhmen (auch Laien) antike Themen mit christlicher Moralinterpretation schätzte, aber eben in einer leicht konsumierbaren Variante. Pavel Blažek / Barbora Řezníčková (S. 85–135) behandeln ein frühes Beispiel der Hausväterliteratur (Epistola de cura rei familiaris) und dessen böhmische Rezeption (insgesamt 39 lateinische und 4 tschechische Abschriften). Gleb Schmidt (S. 137–163) konzentriert sich auf die Wandlungen der Leserschaft des Elucidarium des Honorius Augustodunensis (mit 400 Hss. eines der am meisten überlieferten Werke überhaupt). Im 12./13. Jh. waren es in aller Regel Geistliche, die den Text für ihre Predigten nutzten, im 14./15. Jh. wurde der (ursprünglich etwas chaotisch angelegte) Text mehr und mehr über Register erschlossen sowie erweitert und insofern für die damalige Wissenschaft zu einem echten „book of knowledge“. Jaroslav Svátek (S. 165–182) bestätigt diese Beobachtungen für dasselbe Werk anhand der spätma. deutschen und tschechischen Hss. in Böhmen (sog. Lucidarius): Die Leserschaft wurde breiter und das Werk zu einer Enzyklopädie. Lucie Doležalová (S. 183–202) behandelt die böhmische Rezeption von De tribus punctis christianae religionis des Pariser Scholastikers Thomas Hibernicus, welche intentionell durch den Erzbischof von Prag Ernst von Pardubitz gelenkt wurde, der den Text an seine Statuten (1349) anhängen ließ. Dadurch habe er einen doktrinären Charakter angenommen, sei also nur noch bedingt als „book of knowledge“ (im Sinne von Wissensauseinandersetzung) zu sehen. Nadine Holzmeier (S. 203–227) verweist bei der Chronologia Magna des Paolino Veneto auf die Visualisierungsstrategien des Autors bei der linea doctorum et scriptorum. Diese Stammbaum-Linie läuft im Werk parallel zu den Papst- und Kaiserlinien und beweise somit die Relevanz und Selbstständigkeit, die der Autor der Wissenschaft zugemessen habe. Vojtěch Bažant (S. 229–246) untersucht eine Hs. aus Kutná Horá von 1460 (heute Budapest, Széchény-Bibl., Clmae 203), welche von Petr Přespole aus Prag angefertigt wurde und u.a. (neben religiösen Traktaten) das Chronicon pontificum et imperatorum des Martin von Troppau enthält. Der Vf. legt dar, dass die Hs. im utraquistischen Kontext ihrer Zeit zu sehen ist und besonders die Weltchronik dem Leser handbuchartiges Wissen übermitteln sollte. Baudouin Van den Abeele (S. 247–274) zeigt anhand des Physiologus Theobaldi, welcher besonders im 15. Jh. oftmals für schulische Zwecke abgeschrieben wurde (ca. 110 Hss.), dass wir bei der Gattung des Bestiarium zwischen zwei Klassen und Leserschaften unterscheiden müssen: Einerseits Hss. für Schüler und Studenten, welche in der Regel einfach und unbebildert gehalten sind (dafür aber viele Glossen enthalten), andererseits reich bebilderte Prachthss. (weitestgehend ohne Glossen), die für ein wohlhabendes Publikum angefertigt wurden. Dana Stehlíková (S. 275–297) führt anhand des Herbarium des Prager Universitätslehrers Christian von Prachatice sehr instruktiv vor, dass teilweise auch einfach die visuelle Aufbereitung der Hss. (hilfreiche Indices und Verweise wurden integriert) für eine erfolgreiche Durchsetzung gegenüber konkurrierenden Schriften sorgen konnte. Im letzten Beitrag schließt Pavlína Cermanová (S. 331–359) an den Eingangsbeitrag von Williams an, indem sie die Verbreitung des Secretum secretorum an mitteleuropäischen Universitäten untersucht, und stellt fest, dass einige Teile des Werks (besonders zur Medizin) im Unterricht genutzt wurden, was die Glossen in vielen der überlieferten Hss. gut illustrieren. Oftmals kann man feststellen, dass die Hss. an andere Universitäten gewandert sind, also durchaus ein lebhafter Austausch stattfand. Zwei allgemeine Anmerkungen zum Konzept des Bandes seien erlaubt – zunächst zur Begrifflichkeit: Der bewusst weit verstandene Begriff „book of knowledge“ lässt diesen im Umkehrschluss etwas unpräzise erscheinen (was die Hg. selbst sehen, S. 9). Als ein Kriterium wird der schulische und universitäre Gebrauch genannt, wo sich Wissen eben verbreitete. Dabei scheint jedoch die (hier nicht gemachte) Unterscheidung wichtig, welche Texte konkret über die damaligen Curricula studiert wurden (z.B. das Secretum secretorum, das Elucidarium oder der Physiologus Theobaldi) und welche letztlich nur als verbreitetes Allgemeinwissen angenommen werden können (z.B. das Wissen über Bienen und Schach als Spiegel der Gesellschaft). Fasst man die zweite Kategorie als moralisch-ethisches ‘Weltwissen’ auf, so ist es durchaus angemessen, auch Weltchroniken einzubringen (wie mit Martin von Troppau und Paolino Veneto geschehen), es scheint aber wenig sinnvoll, dann Epen, Erzählungen und dergleichen kategorisch auszuschließen (wie S. 4 geschehen). Reiseberichte z.B. wie derjenige des Jean de Mandeville haben doch ebenfalls zum damaligen Weltwissen beigetragen (wenn auch nicht ganz in unserem modernen Verständnis). Die zweite Anmerkung bezieht sich auf den geographischen Bezugsrahmen: Ausweislich des Gesamttitels geht es um die Rezeption und Zirkulation von „knowledge“-Hss. in ganz Europa. Die große Mehrheit der Beiträge konzentriert sich aber auf das Königreich Böhmen und umliegende Regionen (Bayern, Österreich). Hier hätte man sich etwas mehr Präzision gewünscht. Abschließend lässt sich konstatieren: Die Beiträge liefern in ihrer Summe sehr wertvolle Einblicke zum spätma. Austausch- und Rezeptionsverhalten elitär-intellektueller Schichten (nochmals: v.a. auf Böhmen bezogen). Der Erfolg vieler Werke hing oftmals nicht nur vom Inhalt ab, sondern auch von der illustrativen und/oder didaktischen Aufbereitung, von ihrer Funktion im jeweiligen Überlieferungsträger und von ihrer Zweckgebundenheit an den jeweiligen historischen Kontext.
Grischa Vercamer
(Rezensiert von: Grischa Vercamer)