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Pascal Vuillemin, Parochiae Venetiarum. Les paroissses de Venise au Moyen Âge. Préface d’Élisabeth Crouzet-Pavan (Bibliothèque d’histoire médievale 20) Paris 2017, Classiques Garnier, 714 S., Abb., ISBN 978-2-406-07177-8, EUR 65. – Das Buch macht neuerlich deutlich, welch große Forschungslücken noch hinsichtlich des ma. Niederkirchenwesens bestehen. Die Pfarrei wird noch immer als kleine, scheinbar belanglose Institution der kirchlichen Organisation in Stadt und Land unterschätzt, manchmal auch als Gegenstand bloß lokaler Forschung abgewertet, aber die Beschäftigung mit dem Niederkirchenwesen ist schon deshalb nötig, weil die breite Masse der Gläubigen im Alltag wie an Sonn- und Feiertagen vor allem in ihrer Pfarrei mit der Amtskirche in Berührung kam. Es mag wie ein Wunder erscheinen, dass es nach der Missionierung und Christianisierung Europas durch Mitwirkung vielfältiger Kräfte in einem jahrhundertelangen Prozess gelang, eine flächendeckende Pfarreiorganisation aufzubauen. Ungeachtet gemeinsamer Merkmale und Funktionen gab es im ma. Lateineuropa ein vielgestaltiges Niederkirchenwesen, wie schon der Blick auf Großstädte wie Köln, Paris, London oder – das ist das Thema des Buchs – Venedig zeigt. Die umfangreiche Studie wurde 2009 an der Univ. Paris IV als thèse de doctorat angenommen. Der Vf. lehrt mittlerweile als Maître de conférences in ma. Geschichte an der Univ. Savoie-Mont-Blanc (Chambéry). Die Einleitung S. 23–39 bietet einen perspektivenreichen Überblick, berücksichtigt aber vor allem den französischen und italienischen Forschungsstand. Deutsche Historiker wie Dietrich Kurze, Alfred Wendehorst, Wolfgang Petke oder Wilhelm Janssen, die auf diesem Themenfeld Bedeutendes geleistet haben, bleiben ungenannt. Die Untersuchung von V. hat natürlich nicht die Pfarreigeschichte Venedigs im gesamten MA zum Gegenstand. Das wäre Thema eines mehrbändigen Werks. Venedig umfasste am Ende des MA 69 Pfarreien, die vom 6. bis 13. Jh. entstanden waren, mit einem deutlichen Schwerpunkt im 9.–11. Jh. Das sind mehr Pfarrkirchen, als Paris und London hatten, von Köln gar nicht zu reden. Es wird deshalb nicht überraschen, dass sich V. auf den Zeitraum um 1500 beschränkt. Den Rahmen der Kirchenorganisation bestimmte der Bischof, seit 1451 Patriarch von Venedig. Die Arbeit ist in drei große Teile gegliedert. Das erste Hauptkapitel behandelt Pfarreiorganisation, Klerus und Liturgie. Nach einem Abriss der Geschichte des Patriarchats Grado bzw. seit 1451 Venedig wird die Entwicklung der Pfarrkirchen und ihrer Sprengel (campus ecclesie genannt) betrachtet, von der Kathedralkirche S. Pietro di Castello über die vorwiegend als Kollegiatkapitel strukturierten Pfarrkirchen (immerhin 58 in Venedig) bis zu den wenigen einfacher organisierten Pfarreien, unter Einbezug der Gemeinden, etwa aus demographischer Sicht. Breiten Raum beansprucht der Pfarrklerus, für den zwar (aus verständlichen Gründen) keine Prosopographie geboten, der aber exemplarisch betrachtet wird: Ausbildung, Karrierewege, Stellenwechsel, Bildungsverhältnisse (Buchbesitz) und andere wichtige Aspekte werden angesprochen, auch die clerici vagantes (von der deutschen Forschung als „Klerikerproletariat“ apostrophiert) geraten in den Blick. Das letzte Unterkapitel gilt dem Kern des Pfarreilebens, nämlich Gottesdienst, Liturgie und sakramentaler Seelsorge. Im zweiten Teil stehen die inneren Verhältnisse der Pfarrei und ihr Wandel im Mittelpunkt, was etwas abstrakt als Wandel der „échanges paroissiaux“ bezeichnet wird. Zunächst werden die rechtlichen Regelungen der Pfarrbesetzung erörtert, nämlich die Entwicklung vom Eigenkirchenrecht zum Patronatsrecht, die Etablierung der Pfarrerwahl in einigen Pfarreien sowie der Wandel des Patronats um 1500. Ein weiteres Unterkapitel gilt den wirtschaftlichen Verhältnissen, namentlich den Zehnteinkünften und dem Kirchengut („patrimoines paroissiaux“), der Herausbildung einer von laikalen Prokuratoren verwalteten Kirchenfabrik. Schließlich wendet sich der Vf. dem Frömmigkeitsleben zu, indem Heiligenverehrung, Bruderschaften („scuole parrochiali“), Spiritualität, Predigt und der Trend zu einer Privatfrömmigkeit der Laien angesprochen werden. Diese Entwicklung wird als „déracinement paroissial des dévotions“ (S. 365) umschrieben. Im dritten Teil wird gezeigt, wie sich der Stellenwert der Pfarrei im kirchlichen Leben veränderte, was einem allgemeinen Trend in den Großstädten des ausgehenden MA entspricht, in denen sich den Gläubigen manche Alternativen zur Frömmigkeitspraxis im Rahmen der Pfarrei boten. Der Vf. spricht deshalb von einem „polycentrisme religieux“ (S. 457) und erörtert Aspekte wie Begräbnis und Memoria, bestimmte Frömmigkeitsformen wie die Verehrung des Allerheiligsten oder Praktiken der Caritas, aber auch die Auseinandersetzung der Pfarrgeistlichkeit mit Konkurrenten wie den Ordensgemeinschaften. Die Untersuchung mündet ein in die Frage nach kirchlichen Reformbestrebungen, die an mehreren Pfarrvisitationen der zweiten Hälfte des 15. Jh. ablesbar sind und nach der Jahrhundertwende in die Promulgation von einheitlichen Statuten („coutumes“) durch den Patriarchen Antonio Contarini 1513 mündeten. Damit ist der chronologische Endpunkt der Arbeit erreicht. Eine recht knappe Zusammenfassung (S. 601–605) beschließt diese umfangreiche und inhaltlich sehr dichte Untersuchung, die auf einem breiten Fundament von Archivstudien beruht. Hervorzuheben ist die gute Ausstattung des Buchs. Viele Untersuchungsschritte werden durch Karten illustriert, die eigens angefertigt wurden, und durch Grafiken und Tabellen veranschaulicht. Angesichts der Überlieferung in Venedig und der großen Zahl dortiger Pfarreien bleibt noch viel Spielraum für weitere Forschungen zu den parochiae Venetiarum, doch werden sich alle weiteren Arbeiten an der großen Studie von V. zu orientieren haben. Im Rahmen der ma. Pfarreigeschichte, die ein gesamteuropäisches Thema ist, hat V. mit Venedig eine wichtige Fallstudie geliefert, die dazu ermutigt, andere ma. Großstädte Europas zu untersuchen.

Enno Bünz

(Rezensiert von: Enno Bünz)