Gian Luca Potestà, Dante in conclave. La Lettera ai cardinali (Cultura e storia 39) Milano 2021, Vita e pensiero, 230 S., 2 Abb., ISBN 978-88-343-4376-0, EUR 23. — Der berühmte und in der früheren Forschung immer wieder Dante abgesprochene, mit Threni 1,1 einsetzende Brief an die italienischen Kardinäle ins Konklave von Carpentras, das nach dem Tod Clemens’ V. im Jahr 1314 einberufen worden war, um einen Nachfolger zu küren – was dann schließlich über zwei Jahre gedauert hat –, war schon oft Gegenstand der (italienischen) Forschung und erlebte im 700. Todesjahr Dantes 2021 eine grundlegend neue Bearbeitung und Interpretation durch P., der als Kenner der philosophisch-theologischen Gedankenwelt nicht nur um Joachim von Fiore und Ubertino da Casale ausgewiesen ist. In dem Brief beklagt sich Dante über die Abwesenheit des Papstes aus Rom und macht dafür die italienischen Kardinäle verantwortlich, die seinerzeit schon an der Wahl Clemens’ V. beteiligt gewesen waren. Als annähernd exaktes Datum der Abfassung grenzt P. den Zeitraum zwischen dem Tod Clemens’ V. und der Doppelwahl von Frankfurt/Sachsenhausen ein, da in Dantes Worten Rom seiner beiden Lichter (Papst und Kaiser) beraubt ist. Zur Konkretisierung seiner zeitlichen Verortung macht P. darauf aufmerksam, dass Dantes Brief vor dem merkwürdigen Brief des Napoleone Orsini an Philipp den Schönen in Carpentras eingetroffen sein muss, da Napoleones Schreiben als eine indirekte Reaktion auf Dantes Brief zu werten sei. In der historischen Einordnung holt P. weit aus mit seinen Interpretationen, die sich besonders auf das neun Jahre zuvor mit der Wahl des Gascogners Bertrand de Got als Clemens V. beendete Konklave in Perugia beziehen, in dessen Folge der neue Papst seinen Sitz nach Frankreich verlegte. Die Anführer der beiden in Perugia gebildeten Parteien – beide aus dem römischen Geschlecht der Orsini – werden von Dante ausdrücklich genannt: Den 1305 schon verstorbenen Matteo Rosso überzieht er mit wüsten Beschimpfungen; dessen Cousin Napoleone spricht er direkt an. Nach P.s überzeugender Argumentation dürften Napoleone und Dante sich persönlich gekannt haben. Auf den Zeitraum zwischen diesen beiden Konklaven geht P. deshalb ausführlich ein und erläutert die zahlreichen Anspielungen, die den Empfängern damals unzweifelhaft verständlich gewesen sein müssen, detailliert Satz für Satz. Sein größtes Verdienst ist jedoch, dass er sich wieder auf den Quellenbefund konzentriert und den Text des Briefs am einzigen Überlieferungsträger ausrichtet, nämlich der Florentiner Hs. Bibl. Medicea Laurenziana, Ms. Plut. 29.8, in die der junge Giovanni Boccaccio den Brief seines Vorbildes eigenhändig kopiert hat. Entgegen den früheren Ausgaben, von denen P. ausdrücklich drei neuere aus den Jahren 2012–2016 nennt, die seiner Meinung nach mitunter ungebührlich in den Text eingreifen, bleibt der Text bei ihm (S. 198–202) beim Wortlaut der Boccaccio-Hs. P. stellt auch die ursprüngliche Interpunktion Boccaccios wieder her und geht sehr behutsam mit dem Text um, indem er nur offensichtliche Schreibfehler bereinigt und eine klassische Orthographie bevorzugt – die Lesarten der Hs. sind aber immer im textkritischen Apparat ausgewiesen. Der Sachkommentar beschränkt sich – nach der ausführlichen Behandlung des historischen Hintergrunds im darstellenden Teil völlig zu Recht – auf den Nachweis der Vorlagen, die mit Ausnahme einer Stelle aus der Nikomachischen Ethik des Aristoteles alle der Bibel entstammen. Ein respektables Literaturverzeichnis (S. 203–220), ein Hss.-Register (S. 221), ein Register der Bibelstellen sowie ein Namenregister beschließen den Band. Auch wenn P. primär die historische Einordnung des Briefs und der darin enthaltenen Anspielungen im Blick hatte, liegt nun auch der „originäre“ Boccaccio-Text im Druck vor, um nach dem Vorbild des jüngst erschienenen Beitrags von Renáta Visegrádi (Correlazione tra cursus e punteggiatura in alcune lettere di stato di Coluccio Salutati, Medioevo e Rinascimento 36, n.s. 33, 2022, S. 63–86) auch in diesem Brief das Verhältnis von Cursus und Interpunktion zu untersuchen, auch wenn nicht mit letzter Sicherheit zu eruieren wäre, welche stilistische Figur auf Dante selbst zurückgeht und welche von Boccaccio erst hinzugefügt wurde. Jedenfalls wird P.s Edition in Zukunft für die Beschäftigung mit dem berühmten Brief 11 als maßgebliche Textgrundlage herangezogen werden müssen.
H. Z.
(Rezensiert von: Horst Zimmerhackl)