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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 80,1 (2024) *.

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Liber Pontificalis. Das Buch der Päpste, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Ingemar König (Fontes Christiani 97/1–2) Freiburg i.Br. / Basel / Wien 2022, Herder, 841 S. in 2 Teilbden., ISBN 978-3-451-32934-0 u. 978-3-451-32935-7, EUR 59 u. 48. – Erstmals wird hier eine deutsche Übersetzung des römischen Liber pontificalis vorgelegt. Diese Sammlung bischöflicher Tatenberichte ab Petrus ist bekanntermaßen in der ersten Hälfte des 6. Jh. entstanden und bis ins 9. Jh. fortgeführt worden, bevor sie ab dem hohen MA fortgesetzt und im 15. Jh. schließlich durch literarisch gefälligere Darstellungen ersetzt wurde. Die weiterhin maßgeblichen Editionen, verantwortet von Louis Duchesne und für die MGH von Theodor Mommsen, sind beide am Ende des 19. Jh. erschienen. Sie unterscheiden sich nicht zuletzt im Umfang: Während Duchesne den gesamten Liber pontificalis bis ins 9. Jh. und außerdem spätere Fortsetzungen bietet, endet der entsprechende Band der Gesta pontificum Romanorum bei den MGH mit Constantin I. († 715); die geplante Fortsetzung ist nie erschienen. Das Ende von Mommsens Edition entspricht dem Umfang, in dem das römische Bischofsbuch in einer der wichtigsten Hss., Lucca, Bibl. capitolare Feliniana, ms. 490 (Ende 8. / Anfang 9. Jh.), überliefert ist. Wichtig ist dies für die vorliegende Übersetzung, weil sie – anders als der Titel es nahelegt – nicht den gesamten Liber pontificalis bietet, sondern sich mit der Hs. von Lucca und Mommsens Ausgabe auf die Pontifikate von Petrus bis zu Constantin beschränkt. Der Übersetzung geht eine umfangreiche Einleitung voraus, in der die Entwicklung der römischen Bischofslisten, die Zielsetzung des Liber pontificalis und Aufbau und zentrale Themen des Werks erörtert werden. Auf einen knapp geratenen Abriss zur hsl. Überlieferung folgen Hinweise zur Konzeption der Übersetzung und zur Unterteilung von knapp 700 Jahren Papstgeschichte in einzelne Epochen sowie ein Forschungsabriss, der die Verwendung des Papsttitels für den römischen Bischof diskutiert, die Editionsgeschichte skizziert und die Bedeutung des Werks für die Papstgeschichte illustriert. Ein Anhang, der sich im zweiten Teilband an die Übersetzung anschließt, bietet mit ausführlicherer Einleitung das sogenannte Fragmentum Laurentianum lateinisch (nach Mommsen) und deutsch und damit das, was sich von einem weiteren Papstbuch aus dem ostgotischen Rom in einer Hs. der Veroneser Kapitelsbibliothek noch erhalten hat; außerdem eine Übersicht über die Grablegen der römischen Bischöfe und die Topographie Roms nach dem Liber pontificalis, eine Liste der Bischöfe und ein Glossar lateinischer Begriffe, Maße und Gewichte, das zugleich geeignet ist, sich einen ersten Eindruck über die Latinität des römischen Bischofsbuchs zu verschaffen. Der Anlage der Reihe entsprechend erwartet den Leser eine zweisprachige Ausgabe mit Annotationen. Zugrunde gelegt wird der Text von Mommsens Edition, der allerdings wiederholt irreführend, mitunter sogar entstellt wiedergegeben wird. Anders als Duchesne hatte sich Mommsen gegen die Rekonstruktion eines kritischen Texts entschieden und bietet dort, wo die drei von ihm unterschiedenen Hss.-Klassen erheblich voneinander abweichen, die jeweiligen Fassungen synoptisch in Spalten gedruckt. Durch ein komplexes Klammersystem macht er zudem deutlich, welche Teile des Textes in zwei gallischen Epitomai, die auf eine frühe Fassung des Liber pontificalis zurückgehen, enthalten sind. Mit der vorliegenden Ausgabe ist versucht worden, Mommsens Textpräsentation in einen Fließtext zu überführen und zugleich von der Hs. aus Lucca bzw. ihrer Hss.-Klasse abweichende Textfassungen wiederzugeben. Dazu werden letztere im lateinischen und deutschen Text durch eckige Klammern und Kursivsetzung kenntlich gemacht. Dieses Unterfangen scheitert mehrfach: Zunächst fehlt es in der Einleitung an einer ausreichenden Einführung in die komplexe hsl. Überlieferungssituation, aus der sich Mommsens Textpräsentation erklärt; stattdessen wird summarisch auf die Darstellungen Mommsens und Duchesnes verwiesen. Umso verwirrender ist es, wenn der „Langtext“ des Liber pontificalis bei der Angabe der verwendeten Siglen mit der Hs. aus Lucca identifiziert, dann aber in drei (Hss.-!)Klassen gegliedert wird (S. 61). Hier weiß gleichfalls nur weiter, wer sich bereits ausführlich mit Mommsens Ausgabe einschließlich der in neoklassizistischem Latein gehaltenen Prolegomena auseinandergesetzt hat. Auch bei der Lektüre einzelner Gesta muss man auf die Editionen zurückgreifen, um die Textdarstellung zu verstehen: Der Spaltendruck bei Mommsen ermöglicht es ohne Weiteres, zwischen divergierenden Parallelfassungen und Ergänzungen bzw. Auslassungen zu unterscheiden. Bei K. ist beides jedoch in eckigen Klammern in den laufenden Text eingearbeitet, so dass etwa im Eintrag zu Leo dem Großen (S. 354f.) nicht entschieden werden kann, ob die Bischöfe in Chalzedon nach der Hss.-Klasse III Eutyches, Nestorius und Dioscorus oder nur die beiden letzteren verurteilt haben. Außerdem lassen sich so Auslassungen in den Epitomai – im Gegensatz zum Klammersystem Mommsens – nicht deutlich machen, ohne dass auf diesen bedeutsamen Unterschied hingewiesen würde. An mehreren Stellen ist die Textpräsentation der MGH nicht wiederzuerkennen: Erneut im Leo-Eintrag wird beispielsweise als lateinischer Normaltext die (sicherlich sekundäre) Überlieferung in einer der gallischen Epitomai (F) angegeben, der in der Klammer allerdings der Text der Hs. aus Lucca (Hss.-Klasse I) zugewiesen wird (S. 352). Im Deutschen wiederum wird suggeriert, F biete denselben Text wie die Hss.-Klassen II und III, während der lateinisch noch abgedruckte Text der ersten Hss.-Klasse gar nicht übersetzt ist (S. 353). Wenige Zeilen später wird ein Stück Text exklusiv F zugewiesen, das sich ausweislich der MGH in allen Überlieferungssträngen findet, und gleichzeitig für F Text ausgewiesen, den nur die erste Hss.-Klasse hat (S. 352f.). Falsch ist ebenso, wenn etwa bei Xystus II. (S. 176f.), Silvester (S. 248f.), Xystus III. (S. 346f.) und Gelasius (S. 388–393) Text der (zweiten und) dritten Hss.-Klasse mehrfach auch F (sowie gegebenenfalls der zweiten gallischen Epitome) zugewiesen wird; immer wieder widersprechen sich dabei die Angaben im lateinischen und deutschen Text. Die Liste der Beispiele ließe sich fortsetzen. Weitere Monita wirken demgegenüber wie Petitessen: Dass auf S. 290 auf einmal Beda Venerabilis als Textzeuge auftaucht, wird nur dem verständlich sein, der bereits die Einleitungen von Duchesne und Mommsen durchgearbeitet hat. Dass der Hinweis auf das Eintreffen der Langobarden in Italien, mit dem der Eintrag zu Constantin I. und damit die Ausgabe insgesamt schließt (S. 734f.), sich nur als Schreibernotiz in einer einzigen Hs. findet, hätte man schließlich zumindest in einer Fußnote deutlich machen müssen. Die Übersetzung selbst ist gut lesbar, allerdings wird mitunter Text verschoben (S. 62f. frater et conpresbiter) und nicht immer korrekt übersetzt (S. 232f. agnus dei als „Lamm des Herrn“). Lateinische Termini werden auf ein und derselben Seite einmal kursiv übernommen, davor und danach aber ins Deutsche übersetzt (S. 62f. sedes). Durch Versehen ausgelassen werden einzelne Wörter oder sogar ganze Abschnitte (S. 482 Z. 8–10, S. 524 Z. 5–8). Irritierend ist die – allerdings kenntlich gemachte – Auslassung eines ganzen Pontifikats (S. 88): Zwar sind in der Forschung bedenkenswerte Gründe dafür vorgebracht worden, Cletus und Anacletus mit ein und demselben Amtsträger der römischen Kirche zu identifizieren, aber das römische Bischofsbuch unterscheidet beide und bietet dementsprechend auch für Anacletus einen eigenen, von dem des Cletus abweichenden Eintrag. Es ist nicht Sinn und Zweck einer Ausgabe, mutmaßliche historische Fehler der Quelle durch derart umfangreiche Textauslassungen zu „korrigieren“. Positiv fällt demgegenüber der umfangreiche Anmerkungsapparat auf, der viele weiterführende Hinweise auf neuere Literatur bietet. Er wird durch historische Abrisse zu den einzelnen römischen Bischöfen ergänzt, die dem jeweiligen Eintrag im Liber pontificalis vorangestellt sind. Wer die historische Aussagekraft der Quelle einordnen will, wird also fündig werden – allerdings ist auch hier im Einzelfall Vorsicht geboten: So haben die im einleitenden Briefwechsel erwähnten canones apostolorum gewiss nichts mit der Didache zu tun (S. 62f. Anm. 3), und anders als es die Einleitung zu Silvester suggeriert, kommt in dessen Eintrag das Axiom der Nicht-Judikabilität des Papstes gerade nicht vor (S. 218). In der Bibliographie vermisst man die 2016 und 2020 erschienenen monographischen Studien von Andrea Antonio Verardi (vgl. DA 74, 274f.) und Rosamond McKitterick. Für die universitäre Lehre und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Quelle sollte man die Ausgabe also nur mit Vorsicht und stets nur ergänzend zu den einschlägigen Editionen und Studien heranziehen.

Matthias Simperl

(Rezensiert von: Matthias Simperl)