Jean de Vignay, Le Jeu des échecs moralisé, éd. et annoté par Antoine Ghislain (Anecdota Lovaniensia nova 5 – Romanica) Louvain-la-Neuve 2023, Presses univ. de Louvain, 262 S., ISBN 978-2-39061-333-6, EUR 37,50. – Nach und nach kommen die Übersetzungen des fleißigen Jean de Vignay zur Ehre kritischer Editionen. Eine Edition des Jeu des échecs moralisé hat schon 1974 Carol S. Fuller in ihrer thèse vorgelegt, aber diese ist nie im Druck erschienen. G. hat nun das Material wieder in die Hand genommen und macht damit eines der letzten Werke des Autors zugänglich, das um 1340 fertiggestellt wurde. Das ist umso mehr zu begrüßen, als das Jeu des échecs seinerzeit beträchtlichen Erfolg hatte: In 52 Hss. ist es überliefert, dazu kommen 28 Textzeugen mit einer Hybridversion, die die Fassung des Jean de Vignay mit derjenigen des Jean Ferron kombiniert, und zwei Frühdrucke vom Anfang des 16. Jh. Die Edition, die aus einer Master-Arbeit hervorgegangen ist, zeugt von philologischer Kompetenz und zeichnet sich durch eine schöne Klarheit der Darstellung aus. Das Layout ist ästhetisch geglückt. Nur einige Unstimmigkeiten im Glossar und im Register, ein paar stilistische Ungeschicklichkeiten und grammatische Fehler in der Einleitung hätte ein letzter Korrekturdurchgang noch beheben können. So haben sich einige kleine Fehler in den Text geschlichen, etwa falsche Querverweise. An einer Stelle ist die Rede von Markierungen in Gold (S. 9), während Jean erklärt, er zeichne bestimmte Stellen de saffren aus, wie das in den Anmerkungen und im Glossar auch richtig wiedergegeben wird. Der Aufbau der Arbeit entspricht dem, was für Editionen französischer Texte üblich ist. Die Einleitung stützt sich, wie zu erwarten, auf die bisherige Forschung zu Jean de Vignay und insbesondere zu seiner Übersetzung des Libellus de ludo scacchorum des Jacobus de Cessolis. Der Entstehungskontext (Autor, Datierung, Quelle) wird nüchtern und konzis referiert. Die Analyse der Übersetzungstechnik geht ins Grundsätzliche. Die Unterscheidung von „micro-équivalences“ und „macro-équivalences“ nach D. Gerner und C. Pignatelli will hier nicht so recht überzeugen. So wird die Wortwahl unter „micro-équivalences“ behandelt und bei der Analyse der Stilhöhe, die unter „macro-équivalences fonctionnelles“ erscheint, gar nicht mehr berücksichtigt. Trotzdem werden die wichtigsten Charakteristika der Übersetzung gut herausgearbeitet, insbesondere die Tatsache, dass der Übersetzer seine Technik und seine Kenntnisse im Vergleich zu früheren Arbeiten, speziell seiner Übersetzung des Speculum historiale des Vincenz von Beauvais, sehr vervollkommnet hat. Die lexikalischen Anmerkungen zu Neologismen und Regionalismen sind gut beobachtet und geben diesen Lexemen ihren Platz im Idiolekt Jeans, wie er in seinen schon edierten Werken sichtbar wird. Die Untersuchung der hsl. Überlieferung geht aus von den Erkenntnissen Fullers, die fünf Hss. identifiziert hat, denen ein Platz auf den höheren Stufen des Stemmas zukommt. Die Beziehungen zwischen diesen Textzeugen kann G. dank einer vollständigen Kollation in stringenter Argumentation präzisieren: Einige Unsicherheiten Fullers kann er beseitigen und ein neues Stemma vorlegen. Seinen Folgerungen ist unbedingt zuzustimmen. Seine Behauptung dagegen, die fünf Hss. seien alle aus demselben Skriptorium hervorgegangen, müsste noch bewiesen werden. Falsche Worttrennungen in D und E belegen, dass diese beiden Hss. direkt von A abstammen, auch wenn sich die Vermutung einer Zwischenvorlage nicht ganz ausschließen lässt. Für die Wahl der Leiths. war ein Vergleich der Textqualität zwischen A und B ausschlaggebend. Während Fuller für A plädierte, entscheidet sich G. für B, das weniger Fehler aufweist. Die Wahl ist gut begründet und soll nicht angezweifelt werden, aber die Argumente gegen A sind auch nicht sehr gewichtig. Insgesamt ist die Edition sehr sorgfältig gemacht. Vielleicht hätte ein stärkerer Rückgriff auf die lateinische Vorlage die allzu mechanische Orientierung am Stemma modifiziert, gerade bei Artikeln, Pronomina und dergleichen, wo die unterschiedlichsten Ursachen zu Varianten geführt haben können. Der Punkt vor car/quar ist im modernen Französisch unüblich und wirkt irritierend, bis man sich daran gewöhnt hat. Im Anschluss an die Edition findet man einen Kommentar mit wertvollen Hinweisen zu den Quellen und ihrer Bearbeitung, ein Glossar und ein Register. Die Auswahl der Einträge für das Glossar folgt nachvollziehbaren und konsequent angewendeten Kriterien; durch eine Umgruppierung nach Lemmata hätte es noch gewonnen, und eine kritische Durchsicht hätte einige Abweichungen von der alphabetischen Ordnung und fehlerhafte Großschreibungen verhindert. Die Bibliographie ist umfangreich und auf dem neuesten Stand, nur unter den linguistischen Hilfsmitteln vermisst man das Wörterbuch zum ma. Französisch von Takeshi Matsumara, das Dictionnaire étymologique de l’ancien français und die einschlägigen Grammatiken. Überschriften und Inhalt passen nicht immer zusammen: Unter „éditions utilisées“ findet man ausschließlich Editionen von Jeans Quellen, nicht diejenigen seiner eigenen Übersetzungen, die man unter „études“ suchen muss. Wie leicht zu erkennen, handelt es sich bei all diesen Anmerkungen um Detailkritik, die der generellen Qualität der Arbeit keinen Abbruch tut. G. macht mit seiner Edition einen Erfolgstext des französischen MA bequem und zuverlässig zugänglich.
Frédéric Duval (Übers. V. L.)
(Rezensiert von: Frédéric Duval)