Der Bardewiksche Codex des Lübischen Rechts von 1294, hg. v. Natalja Ganina / Albrecht Cordes / Jan Lokers, Bd. 3: Albrecht Cordes, Rechtshistorischer Kommentar, Oppenheim am Rhein 2022, Nünnerich-Asmus, 288 S., 54 Abb., ISBN 978-3-96176-178-4, EUR 30. – 2022 bereitete sich der Verein für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde mit der prachtvollen Edition des Bardewikschen Codex ein ganz besonderes, viel bestauntes und hoch gelobtes Geburtstagsgeschenk (vgl. DA 79, 739–741). Nun gibt es auch Bd. 3, in dem der Codex inhaltlich kommentiert wird, und zwar nicht nur für Fachkollegen, sondern, wie C. in seinem Vorwort schreibt, für „die am mittelalterlichen Recht interessierten Personen aller Fachrichtungen und über den universitären Bereich hinaus“ (S. 9). Wie schwierig es ist, diesem Personenkreis eine solche ma. Quelle nahezubringen, betont er: Auch „wenn man die Bedeutung jeder einzelnen niederdeutschen Vokabel verstanden hat“ (S. 11), muss sich einem deshalb nicht der Gesamtzusammenhang eines Artikels erschließen, da die Autoren des Codex sehr viel Wissen voraussetzten, das heute verloren ist. Ihre Leistung besteht darin, die bis dahin einfach chronologisch notierten Grundsätze des Lübischen Rechts systematisch geordnet zu haben. Damit gewähren sie einen seltenen Einblick in das Rechtsdenken des ausgehenden 13. Jh. C. verzichtet bewusst auf räumliche und zeitliche Vergleiche, um nicht den alten Fehler zu wiederholen, Lücken durch solche Vergleiche zu füllen, von denen wir gar nicht wissen, ob sie im MA wirklich auf diese Art gefüllt wurden (S. 11). Stattdessen widmet er sich dem Forschungsdesiderat, das Lübische Recht vollständig und in seinem inneren Zusammenhang vorzustellen. Er folgt damit einem Ansatz, der seit dem 18. Jh. nicht mehr verfolgt worden ist, fächert aber einen ganzen Kanon relevanter Fragen auf, denen von der künftigen Forschung nachgegangen werden müsste. Auszugsweise seien folgende zitiert: „Woher kommt das lübische Recht, wie hat es sich weiterentwickelt, wie verhielt es sich als gemeines Recht zu den ihm vorgehenden partikularen Willküren in den einzelnen Städten lübischen Rechts? Namentlich die Wirkungsgeschichte in Form von exemplarischen Längsschnitten bis zum Inkrafttreten des BGB und vielleicht darüber hinaus ist ein Desiderat“ (S. 15). C. betreibt diese Methode so konsequent, dass er sich allein auf das niederdeutsche Lübische Recht, wie es im Codex von 1294 vorgelegt wird, bezieht, die lateinischen Fassungen der Codices für Kiel und Danzig von 1282 bzw. 1263 außer Acht lässt. Er macht immer wieder klar, dass ihn die Rechtsausübung in Lübeck am Ende des 13. Jh. interessiert, für die er hier die Grundlage sieht. Das ist ein völlig anderer Ansatz, als ihn z.B. der Altmeister der Beschäftigung mit dem Lübischen Recht, Fritz Ebel, im vergangenen Jahrhundert gewählt hat, der in der Rechtsanwendung zwischen den Jahrhunderten ebenso Beziehungen herstellte wie zwischen einzelnen Städten. Beide Wege sind möglich, beide haben jedoch unterschiedliche Aussagekraft, die es zu beachten gilt. Die von C. gewählte, strikt von 1294 ausgehende Argumentation lädt von dieser gesicherten Mikroperspektive zu weitergehenden Fragestellungen ein – ein Weg, den die künftige Forschung hoffentlich konsequent beschreiten wird. Der eigentliche Kommentar ist thematisch geordnet zu den folgenden Schwerpunkten: Eherecht (Artikel 1–14), Erb- und Grundstücksrecht (15–41), Ratsherren (42–57), Prozessrecht (58–75), Strafrecht (76–95), Vormundschaft (96–102), Testamente (103–106), Zeugenbeweis (107–112), Grundstücksrecht (113–127), Fälschungen (128–132), Schiffsrecht (133–139), Körperverletzungen (140–145), Pfandrecht, Beschlagnahme und Gerichtsverhandlungen (146–151), Tiere, Pfandrecht (152–161), Nachbarschaftsrecht (162–172). Auf moderne Leser wirkt diese Reihenfolge willkürlich und chaotisch, der Codex steigert dies aber noch mit den Artikeln 173–231, die C. als „Vermischtes ohne Systematik“ zusammengefasst hat. Es folgen mit den Artikeln 232–241 Nachträge bis zum Ende des alten Registers sowie Nachträge nach Abschluss des alten Registers mit den Artikeln 242–256, die zeigen, wie lebendig mit dem Codex gearbeitet wurde. An diese Artikel schließen sich, wie in vielen ma. Quellen, weitere Themenbereiche an, eine Hopfen- und Salzverkaufsordnung, eine Brotgewichtstaxe sowie Ratswahlordnung und Ratseid. Jedes Kapitel wird durch C. inhaltlich eingeleitet. Es folgt die Edition mit Blattangabe und Markierung des Zeilenumbruchs, eine Übersetzung sowie eine Kurzfassung des Inhalts. In Klammern erfolgen Verweise auf Parallelstellen, zu den Codices Kiel und Göttingen sowie dem Lübecker Fragment. Daran schließt der Kommentar mit Fußnoten an. Jeder, der schon einmal mit ma. Rechtsquellen gearbeitet hat, wird die enorme Leistung dieses Kommentars erkennen und schätzen. Allein schon die Übersetzung der Quelle erleichtert dem von C. avisierten Personenkreis die Beschäftigung mit ihr enorm, Weiteres leisten seine kundigen Erklärungen der Vorschriften, wenn es etwa um die Ehe außerhalb der Stadt oder ohne Rat der Verwandten geht. C. wendet diese Vorgehensweise auch bei der Edition der Verkaufsordnungen für Hopfen und Salz, bei der Brotgewichtstaxe, der Heinrich dem Löwen zugeschriebenen Ratswahlordnung und dem Ratseid an. So konsequent er bei der Fokussierung auf „seine“ Quelle ist, so gut kennt und nutzt er für die Bebilderung Belege aus anderen Städten, wie die Abbildungen von Brotlaiben an der Westwand des Freiburger Münsters zeigen, mit denen er die Brotgewichtstaxe illustriert (S. 262). Ansonsten kann er bei den Illustrationen natürlich aus dem Vollen des prächtig gestalteten Bardewikschen Codex schöpfen. C. stellt immer wieder Fragen, die auch seine Klientel beschäftigen dürften, etwa nach der Umrechnung ma. Preise oder der Kaufkraft der Lübecker Währung nach heutigen Maßstäben, und beantwortet sie methodisch klug. Der wissenschaftliche Apparat umfasst ein Glossar und Register, mit denen die schnelle Greifbarkeit der Informationen gewährleistet wird und die die Quelle mustergültig erschließen. C. hat mit diesem Kommentar ein Experiment gewagt, das rundum gelungen ist und hoffentlich andere zu vertiefter Erforschung des Lübischen Rechts anregt. Wieviel hier noch zu tun ist, haben die vergangenen Jahre mit umfangreichen Publikationen zum Magdeburger Rechtskreis gezeigt. Es macht Hoffnung, dass diese wichtigen Fragen der Hanse- und Rechtsgeschichte endlich auf hohem Niveau verhandelt werden.
Nils Jörn
(Rezensiert von: Nils Jörn)