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Thomas Wozniak, Naturereignisse im frühen Mittelalter. Das Zeugnis der Geschichtsschreibung vom 6. bis 11. Jahrhundert (Europa im Mittelalter 31) Berlin / Boston 2020, De Gruyter, XXIII u. 970 S., Abb., ISBN 978-3-11-057231-5, EUR 149,95. – Umweltgeschichte hat aufgrund der sich zuspitzenden ökologischen Probleme unserer Zeit und der damit verbundenen gesellschaftlichen Diskurse und Konflikte zu Recht Konjunktur. Doch ist Umweltgeschichte nicht allein die Erforschung des historischen Bewusstseins von und des Umgangs mit Ökologie; „Umwelt“ in einem umfassenden Verständnis ist vielmehr, wie der Vf. des auf seiner Tübinger Habil.-Schrift von 2017 basierenden Buchs eingangs hervorhebt, „zunehmend“ die „vierte Grundkategorie der Geschichtswissenschaft neben Politik, Kultur und Wirtschaft“ (S. 1). So möchte W. mit seiner Arbeit den „Einfluss der natürlichen Umwelt in der zeitgenössischen Entwicklung“ und die daraus folgenden „Beobachtungen und Reaktionen“ (ebd.) in der Geschichtsschreibung während einer Zeitspanne untersuchen, die klimageschichtlich zwischen der frühma. Kälteperiode und dem Beginn der hochma. Wärmeperiode liegt. Dies unternimmt er, indem er nach einer gründlichen, weitsichtigen Einleitung in stetem Abgleich mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in mehreren Durchgängen die annalistisch-chronikalische Überlieferung vor allem im Raum des (früheren) Frankenreichs durchpflügt: Zunächst werden „astronomische, tektonische, geomorphologische und vulkanische Ereignisse“ (S. 73) beleuchtet, sodann extreme Wetterereignisse, danach die (damit teils verbundenen) Folgen in Form von Tierplagen und -seuchen, Epidemien und Hungersnöten. Schließlich werden in Kapitel 4 die verschiedenen Wahrnehmungs-, Deutungs- und Bewältigungsstrategien der Menschen in jenen Jahrhunderten untersucht, welche rational-kausale Erklärungen punktuell durchaus kannten, aber im Wesentlichen doch in transzendenten Einordnungen und Deutungen argumentierten. Wie es kaum anders sein könnte, erörtert die Arbeit in besonderer Weise auch die methodischen Fragen und Probleme, die sich aus der herangezogenen Quellenkategorie ergeben, nicht zuletzt zum Verhältnis von Ereignis, Diskurs und Intentionen. In der ‘Natur’ historiographischer Quellen liegt es eben, das Außergewöhnliche bis Extreme im Bericht zu bevorzugen. Das quantitativ und qualitativ gewichtige Werk verbindet die Sammlung eines stupenden Quellen- und Wissensfundus mit analytischen Zugriffen, die auch interdisziplinär anregend sind und die zukünftige Beschäftigung mit der Umweltgeschichte des vormodernen Europa stark befördern werden. Daher ist das an Einzelbefunden und übergeordneten Ergebnissen reiche, mit sortierten Fundlisten in Anhängen garnierte opus magnum rundherum sehr zu begrüßen, schließt es doch eine bislang merkliche Forschungs- und Darstellungslücke für die betrachtete Zeit in überzeugender Weise.

Gabriel Zeilinger

(Rezensiert von: Gabriel Zeilinger)