Olaf B. Rader, Kaiser Karl der Vierte. Das Beben der Welt. Eine Biographie, München 2023, C. H. Beck, 544 S., Abb., ISBN 978-3-406-80428-1, EUR 38. – Beim Lesen der Einleitung kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, man habe das schon einmal gesehen. Der Lebenslauf des böhmischen Königs und Kaisers Karl IV. (1346–1378) beginnt auf eine Art und Weise, die der erfolgreichen Biographie des Vf. über Friedrich II. von Sizilien ähnelt. Nur General Pattons nach Palermo eilende Panzer sind durch Reinhard Heydrichs auf der Prager Burg erzwungene Besichtigung der böhmischen Kronjuwelen ersetzt worden (S. 9–13). Gleich ist der lockere, lesbare, mit Zitaten aus der Belletristik und sogar aus Opernlibretti durchsetzte Stil der Erzählung. Trotzdem ist ein Vergleich beider Biographien irreführend. Während der Vf. in der Welt des „Sizilianers“ Friedrich II. im guten Sinne des Wortes ein Gast war, gingen Karl IV. 30 Jahre wissenschaftlicher und editorischer Arbeit für die MGH Const. voraus. Ihre Ausbeute hat sich sowohl in einer Reihe von Gelegenheitspublikationen (vgl. S. 513f.) als auch in den sorgfältig mit umfassender Detailkenntnis ausgearbeiteten Fußnoten (S. 402–462) sowie im Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 463–534) niedergeschlagen, die ihrerseits für weitere Forschungen zu einer tragenden Säule werden können. Umfang und Charakter der durchgeführten Forschungen kommt etwa in den Zitaten einer Reihe zeitgenössischer Äußerungen über den Kaiser zum Ausdruck, einschließlich der auf sein Geheiß oder unter seiner persönlichen Aufsicht entstandenen Chroniken (S. 329–334). Ebenso in den an die zehntausend Urkunden, die mit seinem Namen verbunden sind (S. 323–326), obwohl ungefähr zwei Drittel der Schriftstücke als verloren betrachtet werden müssen (S. 23f.). Der Vf. musste sich mit dem Problem auseinandersetzen, wie mit dieser außerordentlich reichhaltigen Sammlung verschiedener, nicht selten gar konträrer Zeugnisse umzugehen sei. Jiří Spěváček, der im Rahmen der Editionsreihe Regesta diplomatica nec non epistolaria Bohemiae et Moraviae daran beteiligt war, die Urkunden Karls IV. verfügbar zu machen, hielt sich in seiner tschechischen Biographie über Karl aus dem Jahr 1980 an eine chronologische Reihenfolge, in die er einzelne in sich geschlossene Abhandlungen über Karls Konzept des „böhmischen Staates“, seine literarische Tätigkeit und Kulturpolitik einbettete. Entlang der Zeitachse bewegt sich auch der Vf., wenn er in drei Teilen Karls Aufstieg zur Macht (Erwählt, S. 27–167), seine Herrschaftspraxis (Erhöht, S. 169–334) und Erinnerungsorte (Verweht, S. 335–380) nachzeichnet. In den Unterkapiteln, die gedanklich zusammengehalten werden durch Karls Überzeugung, er sei ein Werkzeug Gottes (S. 17–23), konzentriert er sich aber auf Einzelaspekte von Karls Leben und seinen Aktivitäten, angefangen mit seinem Auftreten im öffentlichen Raum über seinen Gesundheitszustand bis hin zur Mode. Erheblicher Raum ist Karls perfekt durchdachter Selbstdarstellung vorbehalten, die schon im Untertitel angedeutet ist und der mehr als ein moderner Historiker erlag. Deshalb ist zu bedauern, dass R. sich nicht gründlicher mit dem aktuellen Stand der Erkenntnis auseinandergesetzt hat. Nur am Rande erwähnt er Ferdinand Seibts Verdienste (S. 16), und dass ihm Karl Lamprechts, Horst Bredekamps und Martin Bauchs Überlegungen hilfreich waren (S. 18f.). Einen wertvollen Ausgleich bietet er jedoch dadurch, dass er geduldig Beweise dafür zusammengetragen hat, dass Karl IV. sich zwar möglicherweise selbst als „Beben der Welt“ gesehen hat, in Wahrheit aber ein konservativer, traditionelle Werte teilender Herrscher war, der die Bedürfnisse des Reichs und des Umfelds seiner Herkunft in den Ländern der böhmischen Krone leicht aus dem Blick verlor. Der pragmatische, ja geradezu zynische Umgang mit den Regalien führte noch zu Karls Lebzeiten zu einer Revolte der schwäbischen Städte (S. 345–347), und mit dem schwierigen Erbe, den zerrütteten Finanzen, den Schulden und einem großen Lager von Rivalen und Feinden hatte dann sein Nachfolger Wenzel IV. (1378–1419) zu ringen, ohne Erfolg. R.s souverän und klarsichtig vorgebrachte Schlussfolgerungen fordern nicht nur dazu auf, über Leben und Wirken Karls nachzudenken, sondern vielleicht noch mehr über die Wandlungen des Reichs im Spät-MA und die Voraussetzungen der Hussitischen Revolution.
Martin Wihoda
(Rezensiert von: Martin Wihoda)