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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 80,1 (2024) *.

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Conformisme et transgression dans l’Église méridionale, sous la direction de Sylvie Caucanas / Michelle Fournié / Daniel Le Blévec / Jean-Claude Schmitt (Cahiers de Fanjeaux 56) Fanjeaux 2022, Centre d’études historiques de Fanjeaux, 348 S., 8 Abb., ISBN 978-2-9568972-3-1, EUR 30. – Die in diesem Sammelband präsentierten Forschungen werden in der Einleitung (Jean-Claude Schmitt, S. 11–25) und in der Zusammenfassung (Jean-Pierre Albert, S. 303–313) theoretisch fundiert. Beide Artikel stellen Untersuchungen zu den Begriffen conformisme und transgression dar, die auch etymologisch abgestützt werden. Besonders A. verweist auf die Ambivalenz, die sie enthalten, so dass weder ein Gegensatz, der keine Überschneidungszonen kennt, noch eine normative Bewertung vorliegt. Transgression (Überschreitung) ist ja durchaus eine Negation von Normen, steht aber auch am Anfang religiöser Sinnstiftung, insbesondere in den Gründungstexten des Christentums, die eine Distanzierung und eine Ablehnung gegenüber der etablierten Ordnung verlangen und eine Dynamik von Vorstellungen und Praktiken anstoßen, wohingegen Konformismus eine niedrige Anstrengungsbereitschaft voraussetzt und zu Unterwerfung bis hin zu Opportunismus führt. Das, was transgression auszeichnet, verweist auf den etymologisch verwandten Begriff der Transzendenz. Sie stellt eine Ablehnung, ja Bedrohung der sozialen Ordnung dar, wie Georges Bataille ausgeführt hat. Andererseits ist die Negation Gottes und seiner Gebote eine schwerwiegende Abweichung, die Sanktionen nach sich zieht. Dieses Ensemble von Ambivalenzen wird zusätzlich kompliziert durch die Konkurrenz von Normen, die sich in der Diskordanz unterschiedlicher Rechtssysteme und in Rechtssystemen selbst manifestiert. Zeitliche und räumliche Varianz tritt hinzu. Und schließlich verweisen beide Artikel auf die Unterschiede des Realitätsbezugs, wenn fiktionale Bilder und Texte als Untersuchungsgegenstände einbezogen sind. – Dieser theoretische Rahmen leitet die Überlegungen, die einzelne Aspekte von Definitionen von Normen (so durch Synodalbeschlüsse) und von deren Missachtung behandeln. Die Aufsätze sind eingeordnet in übergeordnete Kapitel zu Normen und deren Übertretung durch Geistliche, zu rechtlichen und religiösen Bewertungen und drittens zu fiktionaler Gestaltung. Jeder zeichnet sich durch genaue Auswertung der Quellen und durch eine intellektuell anspruchsvolle Deutung aus. Verwiesen sei hier beispielhaft auf Mathieu Vivas (S. 155–173), der ungewöhnliche Bestattungsriten untersucht, deren Bedeutung zwischen Sanktionierung einer Übertretung und Ritus der Übertretung oszilliert. In analoger Weise behandelt Vincent Challet (S. 175–194) die Vieldeutigkeit des Eides als Grundlegung einer Innovation, d.h. Ablehnung des Konformen, und auch eines normwidrigen Auflehnens gegen die Ordnung. Der Reichtum der Themen (u.a. Gesetze und deren Übertretung, sexuelle Abweichungen, Häresien, Zeremonien der sozialen Auflösung, verdächtige Reliquienkulte, Imaginationen von Regelabweichungen bis hin zu Obszönitäten) zeichnet diese Publikation aus, die zugleich die Konsistenz der Untersuchungsgegenstände und der Fragestellungen bewahrt. So liegt hier ein Ergebnis gelungener Forschungszusammenarbeit vor und dies trotz der Kontaktbeschränkungen und -verbote, die die Bekämpfung der Pandemie auferlegte.

Hans-Joachim Schmidt

(Rezensiert von: Hans-Joachim Schmidt)