Wolfgang P. Müller, Marriage Litigation in the Western Church, 1215–1517, Cambridge 2021, Cambridge Univ. Press, VIII u. 270 S., ISBN 978-1-108-84542-7. – Die Forschung zur ma. Kanonistik hat sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr verlagert von der Untersuchung der Rechtshss. zu einer der praktischen Anwendung des Rechts. Dabei standen vor allem Ehestreitfälle im Mittelpunkt, da diese Fälle einen Großteil der Tätigkeiten kirchlicher Gerichte im MA ausmachten. Wichtige Arbeiten einer ganzen Reihe von Wissenschaftlern haben vor allem nordalpine Quellen ausgewertet. Dabei zeigte sich eine sehr homogene Praxis; das Verfahren unterschied sich kaum von Gericht zu Gericht. Jetzt legt M. eine notwendige Korrektur vor. Sein Ziel ist es, die Ehegerichtsbarkeit in ganz Westeuropa, auf beiden Seiten der Alpen, vergleichend zu untersuchen. Daraus ergibt sich, vielleicht überraschend für alle, die die jüngsten Forschungen zu Südeuropa nicht verfolgt haben, ein Bild großer Vielfalt, das sich stark absetzt gegenüber den meisten früheren Arbeiten (zumindest in englischer Sprache), die mehr oder weniger ausdrücklich aus der Rechtspraxis in Nordwesteuropa verallgemeinernde Schlüsse zogen. M. gliedert seine Arbeit in drei Kapitel zum „Norden“ und drei zum „Süden“. Die Kapitel zum Norden konzentrieren sich auf die Diözesen Xanten und Basel, auf Frankreich und Deutschland und schließlich auf England. Diejenigen zum Süden behandeln Italien, Katalonien und den Rest der Iberischen Halbinsel. Als erstes fällt ins Auge, dass im nördlichen Europa Ehestreitfälle einen weitaus größeren Anteil an der kirchlichen Rechtsprechung hatten als im Süden. „Northern ecclesiastical judges were about ten, if not fifty or 100 times busier than their Southern colleagues“ mit Ehestreitigkeiten (S. 4). Diese Diskrepanz führt M. auf zwei Faktoren zurück. Erstens gab die breite Verfügbarkeit von laikalen öffentlichen Notaren dem Rechtsleben im Süden ein entschieden anderes Gepräge als im Norden. Während man dort zum kirchlichen Gericht ging, um seine Ehe oder seine sexuellen Praktiken anzufechten oder zu verteidigen, konnte man im Süden ähnliche Ziele erreichen, indem man einfach einen Notar einen Kontrakt anfertigen ließ. Es gibt aber auch regionale Unterschiede: Während in Frankreich und Deutschland durch die Quellen überaus viele Ehefälle bezeugt sind, die vor dem Diözesangericht verhandelt wurden, ist das in England weit seltener der Fall. Denn unkomplizierte Ehefälle wurden in England auf lokaler Ebene behandelt, durch den Archidiakon oder bei einer Visitation des Bischofs. In Katalonien wiederum visitierten die Bischöfe besonders eifrig ihre Diözesen bis in den letzten Winkel und verhandelten dort die Ehefälle. In Kastilien entwickelte und verbreitete sich eine Art häuslicher Partnerschaft nach weltlichem Recht, auch wenn das zumindest dem Buchstaben nach dem kanonischen Recht widersprach. Als zweiten Faktor benennt M. wichtige Unterschiede im Verfahren zwischen Süden und Norden. Im Norden gab es ein öffentliches Bußverfahren, das von einer öffentlichen Sünde, oder vom verbreiteten Gerücht einer Sünde, seinen Ausgang nahm. Vor die kirchlichen Institutionen kamen die Fälle durch ein Gremium vertrauenswürdiger Personen vor Ort, dessen Pflicht es war, solche Gerüchte vor dem Sendgericht vorzutragen. Das Gericht stellte die Angeklagten vor die Wahl, entweder sich durch einen Reinigungseid von dem Vorwurf freizumachen, oder ihre Sünde zu bekennen und Besserung zu versprechen. In vielen Fällen überließen die Richter die Sache ausdrücklich dem Gewissen der Angeklagten. Im Süden gab es ein solches Verfahren nicht (von ganz seltenen Fällen abgesehen). Das bedeutet, dass es auch in den wichtigsten Prozesshandbüchern kaum erwähnt wird – oder man versuchte es wegzuerklären, etwa als eine Form des summarischen Verfahrens. Daher bewegte sich das Bußverfahren auch lange Zeit unter dem Radar der Wissenschaft, und es ist M. zu danken, dass er die Aufmerksamkeit darauf lenkt. Besonders hilfreich ist sein Diagramm auf S. 8, das die einzelnen Stufen des Verfahrens abbildet. Ein drittes Ergebnis von M.s Arbeit ist wertvoll: Er beleuchtet auch, mit welchen Zielen sich die Streitparteien in Ehefällen an kirchliche Gerichte wandten. Schon viele Forscher haben sich gefragt, warum jemand vor Gericht ging in Fällen, in denen es von vornherein klar gewesen sein müsste, dass er wenig Aussicht auf Erfolg hatte, typischerweise, wenn er keine Beweise für seine Behauptungen hatte. Warum zum Beispiel beriefen sich so viele Frauen darauf, dass ein Mann ihnen die Ehe versprochen hatte, bevor sie Geschlechtsverkehr hatten (was sie nach kanonischem Recht zu einem verheirateten Paar gemacht hätte), wo doch dieses Versprechen mündlich und ohne Zeugen gegeben worden war? M.s überzeugende Deutung ist, dass diese Frauen nicht so naiv waren, wie es scheinen könnte, sondern in der Regel ein anderes Ziel verfolgten, als sie offen behaupteten. In Wirklichkeit wollten sie wohl eine offizielle und autoritative Bestätigung ihres Status als Unverheiratete, oder des Rechts einer unehelichen Mutter auf Unterhalt des Kindes, oder vielleicht sogar der Gültigkeit ihrer Heirat. Nicht alles, was M. vorträgt, ist neu, aber er ist der erste, der ein neues Gesamtbild der europäischen Eherechtsprechung im Spät-MA vorlegt. Angesichts seiner umfassenden und sorgfältigen Forschungsarbeit überrascht es nicht, dass die Arbeit manchmal mühsam zu lesen ist. Aber der Ertrag ist reich. M. kennt die einschlägige Literatur in vielen Sprachen, und er wertet ein umfangreiches Corpus von gedruckten und ungedruckten Primärquellen aus. Das Buch ist vollgestopft mit Informationen und neuen Gedanken, mit denen sich jeder, der zum ma. kanonischen Recht forscht, jetzt auseinandersetzen muss.
Anders Winroth (Übers. V. L.)
(Rezensiert von: Anders Winroth)