Timo Steyer, Für die Ehre Gottes und der eigenen Seele. Seelgerätstiftungen in Braunschweiger Bürgertestamenten des späten Mittelalters (Braunschweiger Werkstücke 121, Reihe A: Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek 62) [Wendeburg] 2021, Verlag Uwe Krebs, 422 S., Abb., ISBN 978-3-932030-93-2, EUR 22. – Aufbauend auf älteren und neueren Vorarbeiten analysiert St. in seiner Braunschweiger Diss. über 1800 Testamente vom Ende des 14. bis zum Ende des 15. Jh. Diese sind überwiegend in den fast lückenlos überlieferten Testamentsbüchern der fünf Weichbilde (Altstadt, Neustadt, Hagen, Sack, Altewiek) nach dem Tod der Erblasser (unter dem Datum der Abfassung) aufgezeichnet worden, während nur 91 letztwillige Verfügungen als Einzeltestamente (im Original oder als Abschrift) erhalten sind. Ungefähr ein Viertel der Gesamtzahl entfällt auf Testamente von Frauen, d.h. vor allem von Witwen (dazu S. 92–97, 107f., 136). Nicht erfasst sind Testamente von Braunschweiger Bürgern, die an anderen Orten ihr Testament gemacht und darin auch kirchliche Institutionen ihrer Heimatstadt bedacht haben. Wenig überraschend ist die Erkenntnis, dass vor allem die wirtschaftliche und politische Ober- und Mittelschicht und hier vor allem die führenden Geschlechterfamilien der Altstadt als Erblasser dominieren. Die Legate bewegen sich im Rahmen des auch anderswo Üblichen und reichen von Geld- und vielfältigen Sachspenden, Beiträgen zu Baumaßnahmen oder zur liturgischen Ausstattung der Kirchen und zur Gestaltung von Kirchenfesten bis hin zur Finanzierung von Klerikerstellen. Bei der Zuweisung derartiger Legate spielte die Verbundenheit mit der jeweiligen Pfarrkirche oder auch die geographische Nähe wie im Fall des Nonnenklosters auf dem Rennelberg eine wichtige Rolle. Für ihre Zuwendungen erwarteten die Testatoren die üblichen Gegenleistungen der Empfänger (Gebetsgedächtnis, Messen, Begräbnis etc.). Die Großzügigkeit der Testatoren unterlag gewissen Schwankungen. Zur Zeit der sogenannten Großen Schicht (1374–1380), als viele der alteingesessenen Familien die Stadt verlassen mussten, und während des Braunschweiger Pfaffenkriegs (1413–1424/25), als die Kirchen zeitweise geschlossen waren, sanken die Zahl und das Ausmaß der Vergabungen erheblich. Dagegen stieg die Quote etwa bei Ausbruch von Seuchen, wie sie im Testamentsbuch des Weichbilds Hagen für 1402, 1420, 1439 und in einem Testament von 1473 ausnahmsweise einmal erwähnt werden (S. 126f.). Die (weichbildbezogene) Analyse der Testamente konzentriert sich auf die Erblasser und im zweiten Teil auf die Empfänger (sieben Pfarrkirchen, Kollegiatstifte, Klöster, acht Hospitäler mit Kranken-, Armen- und Pilgerfürsorge, Kapellen, Beginenhäuser, Bruderschaften und Kalande). Minutiös werden für jede einzelne dieser Institutionen Zahl, Gewichtung und Umfang der testamentarischen Verfügungen nachgezeichnet. In manchen Fällen litten die Pfarrkirchen unter kirchenpolitischen Verwerfungen (St. Ulrich) oder profitierten umgekehrt von laufenden Bauprojekten (Turmbau von St. Andreas). Unter den Kapellen nahm die dem heiligen Auctor geweihte Sühnekapelle, die der Rat für die Wiederaufnahme in die Hanse nach der Großen Schicht errichten musste, eine besondere Stellung ein. Etwas überraschend werden die zwei herzoglichen Kollegiatstifte (St. Cyriacus und St. Blasien) als „Fremdkörper im bürgerlichen Stiftungskanon“ (S. 224) und die Klöster (Benediktiner von St. Ägidien, dem Kloster mit dem „Stadtheiligen [St. Auctor] als Stiftungsziel“, S. 330, ferner Franziskaner und Dominikaner und das Kreuzkloster der Zisterzienserinnen auf dem Rennelberg), die nach den Pfarrkirchen aus verschiedenen Gründen am meisten mit Legaten ad pias causas bedacht wurden, in einem einzigen Kapitel zusammengefasst. Bruderschaften waren in den Braunschweiger Testamenten – anders als etwa in Lübeck – nur eine Randerscheinung. Persönliche Bekenntnisse oder individuelle Beweggründe für die Vergabe bestimmter Legate findet man in den im Laufe der Zeit immer stärker standardisierten Texten selten. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet das bereits in der Einleitung zitierte, aber vollkommen untypische Testament des langjährigen Bürgermeisters Hermann von Vechelde (1420), der sich für seine häufige Abwesenheit bei der heiligen Messe entschuldigt, seine lautstarke Streitlust in den Ratssitzungen mit seinem Einsatz für das Gemeinwohl rechtfertigt und seine Verfehlungen mit großzügigen Stiftungen zu kompensieren sucht (S. 11f., 115, 140, 167). Abgesehen von den wenigen Legaten an das Pilgerspital St. Thomae haben Braunschweiger Erblasser in ihren Testamenten auch Stellvertreterwallfahrten von Armen und Mitbürgern in Auftrag gegeben. Im Unterschied zu Lübeck, das diesbezüglich in den letzten Jahren in ausführlichen, aber hier leider nicht erwähnten Beiträgen gründlich untersucht wurde, kommen in Braunschweig kaum Fernwallfahrten vor. Nur einmal wird Rom, nur zweimal Santiago de Compostela als Ziel vorgegeben; dagegen sind zwölf Pilgerreisen nach Einsiedeln, neun nach Aachen, je vier nach Wilsnack und „Ehrwald“ [gemeint ist St. Ewald/Theobald in Thann im Elsass] und ferner zum Hülfensberg und nach Trier verzeichnet (S. 263–265). Auffällig positiv – und nicht so mäßig, wie der Vf. meint – fällt dagegen die Bilanz der Vergabungen an die insgesamt 13 Beginenkonvente der Stadt aus. Recht knapp abgehandelt werden die Legate an auswärtige Kirchen und Klöster, darunter vor allem an Verwandte in den Frauenkonventen in Steterburg, Dorstadt und Heiningen sowie im Zisterzienserkloster Riddagshausen. Nach einem „Fazit“ folgen im Anhang einige Abbildungen (u.a. aus den Testamentsbüchern), eine Übersicht über die spätma. Bürgertestamente von 1386 bis 1492 sowie ein „Personen-, Orts- und [angeblich auch] Sachregister“, in dem man freilich „Sachen“ und Begriffe wie „Pest“, „Pfaffenkrieg“, „Pilger“, „Seelbad“ etc. vergeblich sucht. Doch es bleiben auch einige grundsätzliche Vorbehalte: Die eigentliche Auswertung der Testamente ist über weite Strecken rein quantitativ, beschränkt sich wie erwartet und nicht unproblematisch auf die Legate ad pias causas und blendet die hier so genannten „Familienlegate“ an Verwandte, Freunde und Geschäftspartner aus. Die Rolle der Testamentsvollstrecker und deren soziale Stellung wird nicht diskutiert. Wenig ergiebig, methodisch fragwürdig und zum Teil entbehrlich sind der (lückenhafte!) Seitenblick auf die Erforschung der Testamente in Norddeutschland, die Ausführungen über das Formular, der Versuch einer schichtenspezifischen Einordnung der Testamente, die Bemerkungen über die historische Entwicklung der „Seelgeräte“, die tabellarische Auswertung nach schwer nachvollziehbaren Kriterien und mit erwartbaren Ergebnissen (z.B. S. 106–110) oder auch der Exkurs zum Verhältnis der Seelgerätstiftungen zum Gesamtvermögen der Testatoren. Anders als etwa in Lübeck mit seiner deutschlandweit einmaligen Überlieferung von Originaltestamenten entfällt für Braunschweig angesichts der Überlieferungssituation die Möglichkeit, die sich verändernde wirtschaftliche Situation und die möglicherweise wechselnden religiösen Vorlieben einzelner Erblasser anhand von Mehrfachtestamenten zu verfolgen.
Heinrich Dormeier
(Rezensiert von: Heinrich Dormeier)