Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, 1. Abteilung: Die Rechtsquellen des Kantons Zürich. Neue Folge, Erster Teil: Die Stadtrechte von Zürich und Winterthur, Erste Reihe: Stadt und Territorialstaat Zürich, Dritter Band: Stadt und Territorialstaat Zürich II (1460 bis Reformation), bearb. von Michael Schaffner nach Vorarbeiten von Christian Sieber, Basel 2022, Schwabe Verlag, LXI u. 496 S., ISBN 978-3-7965-4406-4, CHF 190. – Die vorgelegte Auswahl an Rechtsquellen beleuchtet „ein breites Spektrum der Verwaltungsschriftlichkeit“ (S. XXIII), wozu u.a. Geschworene Briefe, Eide, Ordnungen, Zeugenaussagen, Gerichtsurteile und letztwillige Verfügungen gehören. Thematische Eingrenzungen sind dabei bewusst vermieden worden. Zur Kontextualisierung des breit gestreuten Materials skizziert der Bearb. in seiner ausführlichen Einleitung vier thematische Zugänge zu den einzelnen Stücken: die Rechtsräume von Stadt und Herrschaftsgebiet Zürich (1), die darin handelnden Akteure (2), die „Öffentlichkeit“ bzw. die Art, wie Recht kommuniziert wurde (3), und schließlich die Verschriftlichung von Recht (4). Diese thematische Strukturierung ermöglicht es, viele der 195 in chronologischer Reihenfolge edierten Dokumente bereits in der Einleitung anzusprechen und in Bezug zu den vier Themenbereichen zu setzen. Ausführliche Kommentare zwischen den Regesten und den im Volltext edierten Stücken beleuchten den historischen Rahmen und schaffen den Bezug zur bisherigen Forschung. – Etwas mehr als ein Drittel der Dokumente, die den Zeitraum zwischen 1460 und 1560 abdecken, fallen noch vor den Beginn der zwinglianischen Reformation. Dieses vorreformatorische Drittel macht aber deutlich mehr als die Hälfte des gesamten Textvolumens aus, u. a. deshalb, weil in der gebotenen Auswahl ausführliche Rechtsetzungstexte wie die Geschworenen Briefe (Nr. 27, 58) und Gerichtsordnungen (Nr. 99f.) gegenüber spezifischen Geboten und Verboten vor 1523 überwiegen. An der Art, wie Herrschaft ausgeübt und im weltlichen Bereich Recht gesprochen wurde, scheint die Reformation wenig geändert zu haben. Eine deutliche Zäsur schafft hingegen die Übernahme der Ehegerichtsbarkeit sowie der Urteilsfindung im Streit zwischen Laien und Geistlichen – vor 1525 ein Privileg des Bischofs von Konstanz – durch die städtische Obrigkeit. Das neu eingerichtete Ehegericht der Stadt Zürich verschärfte die Tendenz zur Sittenstrenge im Verhältnis zwischen den Geschlechtern und zu einer rigiden Verfolgung ehelicher Untreue, eine Tendenz, „die bereits im späten 15. Jahrhundert eingesetzt hatte“ (Nr. 59, 62, 141 mit Kommentar S. 328). Zwar blieb der römisch-deutsche König im genannten Zeitraum oberster weltlicher Herr über seine Reichsstadt; und die ließ sich ihre sechs Privilegien nach wie vor vom Regenten bestätigen, so am 16. Mai 1521 von Kaiser Karl V. (Nr. 115). Aber die hauptsächliche Rechtsetzungsinstanz waren Bürgermeister, Kleiner und Großer Rat – zusammen als „die Zweihundert“ bezeichnet. Sie herrschten über das durch Kreuze genau definierte Gebiet der Stadt (vgl. die Ordnung zur Wahlfähigkeit von 1489, Nr. 40), das umfangreicher war als der ummauerte Raum und doch nur etwa 5000 Einwohner beherbergte, von denen ungefähr 1000 das volle Bürgerrecht ausüben konnten. Sie herrschten aber auch über einen im Spät-MA kontinuierlich angewachsenen „Territorialstaat“, ein Hinterland, das ungefähr dem Territorium des späteren Kantons Zürich entspricht. In diesem Raum übte meist der Kleine Rat die Hohe Gerichtsbarkeit („Blutgerichtsbarkeit“) aus und war Appellationsinstanz für die Urteile der Niedergerichte, die in den Händen regionaler Adliger, städtischer Familien oder geistlicher Herrschaften verblieben, deren Lehenerwerb jedoch von der Stadt reglementiert wurde (Nr. 10, 23). Uneinheitlich war auch der städtische Rechtsraum, in dem die Klöster, Stifte und Siechenhäuser eigene Immunitätsbezirke bildeten. Das Großmünsterstift verfügte an einzelnen Orten sogar über die Hochgerichtsbarkeit und einen eigenen Galgen. Die zürcherische Landschaft zerfiel in 20 Obervogteien und sieben Landvogteien. Deren Vögte wurden anfänglich teilweise wohl noch aus dem ländlichen Adel, später jedoch aus dem Kreis der ratsfähigen Bürger Zürichs rekrutiert. Es waren städtische Amtsträger, die über einheitliche Eidformulare, Pflichtenhefte und Finanzkontrollen gelenkt und überwacht wurden (vgl. Nr. 5 und 102). – Sehr viele Weisungen und Satzungen betreffen aber weniger das Leben auf der Landschaft, sondern primär die inneren Verhältnisse in der Stadt, namentlich die Bestellung und Vereidigung des Bürgermeisters, der Räte (Nr. 16, 28, 30, 35) und städtischer Beamter wie der Nachtwächter und Stadtschreiber (Nr. 94f.), das städtische Bürgerrecht (Nr. 25, 39), die Begutachtung der Brotqualität (Nr. 17), die Überwachung des Verkaufs von Fleisch und Fisch (Nr. 71 und 89), Marktordnungen (Nr. 69), Handels- und Handwerks- bzw. Gewerbeordnungen (Nr. 18, 42, 50, 65) sowie Zunftbriefe (Nr. 44–49), Festtags- und Kleidervorschriften (Nr. 26, 110) und die Vormundschaft für Witwen und Waisen (Nr. 61). Andere Satzungen betreffen ausdrücklich den gesamten Territorialstaat, aber sie sind vor 1523 nicht sehr zahlreich: Eidpflicht für die im Herrschaftsgebiet Zürichs lebenden Adligen (Nr. 22), Auswanderung und Brachliegenlassen von Gütern ohne Bewilligung (Nr. 24), Verbot fremder Kriegsdienste („Reislaufen“) (Nr. 54, 126), Besetzung der Obervogteien (Nr. 92), Abgabe der Fasnachtshühner in den Landvogteien (Nr. 93). Von den edierten Todesurteilen sind sowohl Auswärtige, Bewohner der Landschaft als auch ein Stadtbürger betroffen: 1482 wurden der Elsässer Ritter Richard Puller von Hohenburg und dessen Diener Anton Mätzler aus Lindau wegen Homosexualitiät (Nr. 15), 1525 Verena Diener von Pfäffikon wegen Hexerei (Nr. 123, 129) und 1527 Felix Manz aus Zürich wegen Verbreitung des Täufertums (Nr. 139) hingerichtet. Insbesondere das Urteil gegen Verena Diener „erlaubt einen Einblick in den Ablauf des Blutgerichtsverfahrens und seine Schriftlichkeit“, und die in diesem Fall erhaltenen Zeugenaussagen enthalten „zahlreiche Hinweise auf das Zustandekommen der Geständnisse unter Einfluss der Folter“ (S. 302). Die ebenfalls edierten Zeugenaussagen im Hexenprozess gegen zwei Frauen aus Benken von 1520 zeigen das übliche Muster der gerichtlichen Hexenverfolgung dieser Zeit, führten aber bemerkenswerterweise weder zu Geständnissen der Beschuldigten noch zu einer Verurteilung (Nr. 112). Die Schnittstelle zwischen der vor- und der nachreformatorischen Zeit wird vielleicht am treffendsten durch eine Instruktion von 1525 für die Verordneten der Stadt Zürich im Umgang mit der aufsässigen Bauernschaft markiert: Die aufs Land geschickten Herren gehen auf die Beschwerden der Bevölkerung, wie sie an einer Volksversammlung in Töß geäußert wurden, ein, verteidigen das Festhalten der Obrigkeit an Zehnten und Steuern und geben Anweisungen zur Wiederherstellung des gestörten öffentlichen Friedens. Die Instruktion dokumentiert zugleich die Hoffnung der reformatorisch gesinnten Bauern von 1524/25 auf die Ablösung wenigstens eines Teils der Feudallasten wie deren Zerschlagung (Nr. 127). – Die Textgestaltung, insbesondere die moderne Zeichensetzung, trägt wesentlich zum Verständnis der Texte bei. Erschlossen wird der Band durch ein Register der Personen, Familien und Organisationen sowie durch ein Ortsregister. Auf ein Glossar bzw. Sachregister wurde bedauerlicherweise verzichtet.
Hannes Steiner
(Rezensiert von: Hannes Steiner)