Understanding Hagiography. Studies in the Textual Transmission of Early Medieval Saintsʼ Lives, ed. by Paulo Farmhouse Alberto / Paolo Chiesa / Monique Goullet (Quaderni di „Hagiographica“ 17) Firenze 2020, SISMEL – Edizioni del Galluzzo, VIII u. 406 S., Abb., ISBN 978-88-8450-960-4, EUR 58. – Der Band enthält ausgewählte Beiträge einer Tagung von 2018 in Lissabon, die sich einerseits theoretisch mit den Problemen der Edition hagiographischer Texte auseinandersetzen, andererseits konkrete Beispiele aus der editorischen Praxis vorstellen. Paolo Chiesa, Le ‘edizioni scientifiche’ di testi agiografici fra teoria e prassi (S. 5–26), bricht eine Lanze für die kritische Edition auch in einem Genre, das in seiner Fluidität, in seinen bescheidenen sprachlichen Ansprüchen und in seiner oft massenhaften Überlieferung ganz besondere Anforderungen an den Editor stellt. – In eher essayistischer Form setzen sich Guy Philippart, L’hagiographie entre croyance et dérision (S. 49–72), Monique Goullet, Déconstruire l’hagiographie (S. 73–84), und Aires A. Nascimento, Hagiographie, un genre littéraire (S. 85–95), mit Hagiographie als literarischem Genre und ihrem Wahrheitsanspruch auseinander. – François Dolbeau, Deux récits latins de translation: une traduction dʼAnastase et son adaptation catalane (S. 127–162), ediert die wortgetreue Übersetzung, die Anastasius Bibliothecarius um 875 von dem Bericht über die Übertragung der Stephanusreliquien nach Konstantinopel Anfang des 5. Jh. verfasst hat (BHL 7858), und die Bearbeitung eines Arnallus in einer Hs. aus Ripoll (Barcelona, Arxiu de la Corona dʼAragó, Ripoll 40), die ins 11. Jh. zu datieren ist und wohl das Autorexemplar darstellt. Arnallus bemühte sich, den schwerfälligen Stil seiner Vorlage in flüssiges Latein umzuwandeln und den Text auf offiziumstaugliche Länge zu erweitern, andere Tendenzen sind nicht erkennbar. – Carmen Codoñer, La transmisión de algunas „vitae“ visigóticas: la „Vita Fructuosi“ (S. 163–190), untersucht die komplexe Überlieferungssituation des Textes und kommt zu dem Ergebnis, dass drei Autoren zu verschiedenen Zeiten an seiner Abfassung tätig gewesen sein müssen. – Patrick Henriet, Remarque sur les origines et sur l’importance des recueils de „Vitae patrum“ dans le monde latin (S. 191–209, 1 Abb.), rekonstruiert aus einer Passage des Decretum Gelasii und der Sammlung des Valerius von Bierzo sowie der hsl. Überlieferung eine Kombination der Mönchsviten des Hieronymus mit anderen Heiligenviten und der Historia monachorum, die seit dem frühen 6. Jh. kursiert habe, während die Sammlungen von Vätersprüchen sich erst später an diese „Ur-collection“ (S. 200) angelagert haben dürften. – Paulo Farmhouse Alberto, A Collection of „Vitae sanctarum“ in Tenth-Century Northern Spain (S. 211–238, 4 Abb.), stellt eine Sammlung spätantik-frühma. Viten vor, die in drei Hss. überliefert ist, El Escorial, a-II-9, Paris, Bibl. nationale, nouv. acq. lat. 2178, und Madrid, Real Academia de la Historia, 13, die offenbar auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen. In León sind im 10. Jh. besonders viele Fälle von Töchtern des hohen Adels bekannt, die sich gegen eine Ehe und für ein Leben im Kloster entschieden; in diesem geistigen Umfeld ist eine Sammlung von Lebensbeschreibungen weiblicher Heiliger, die durchgehend um Jungfräulichkeit und Weltentsagung kreisen, gut zu verorten. – Edoardo Ferrarini, Troppi agiografi per un santo? Il ‘dossier’ di Medardo di Noyon e la questione attributiva di BHL 5864 (S. 239–253), sichtet noch einmal die Argumente Bruno Kruschs (MGH Auct. ant. 4,2 S. XXVI) gegen eine Zuschreibung der Vita an Venantius Fortunatus, befindet sie zumindest zum Teil als gewichtig und kann selbst zwei weitere beisteuern. – Umgekehrt hinterfragt Martina Pavoni, Osservazioni sulla paternità della „Vita“ e del „Liber de virtutibus sancti Hilarii“ attribuiti a Venanzio Fortunato (S. 255–267), Kruschs Gründe für seine Authentizitätsvermutung und stellt auch die Einheit von Vita und Wunderberichten in Frage. – Mariangela Lanza, La „Vita sancti Germani Parisiensis episcopi“ di Venanzio Fortunato in una riscrittura ritmica del IX secolo (S. 269–286), stellt den Text aus der Hs. Bologna, Bibl. Univ., 1702, vor. Ihre Gegenüberstellung mit der Vorlage des Venantius bleibt aber unverständlich, da sie von Venantius nur die aus dem Kontext gerissenen Schnipsel anführt, die der Bearbeiter wörtlich zitiert. – Gaia Sofia Saiani, The „Passio XII fratrum“. History of a Text and Its Rewritings (S. 287–306), rekonstruiert verschiedene Etappen in der Textgeschichte der von ihr edierten Passio (vgl. DA 78, 747f.). – Marianna Cerno, Adam of Paris’ Rewriting(s): A Revolution in the Hagiographical Dossier of Domnius of Salona (S. 307–328), versucht sich an dem Kunststück, ohne die geringsten Sprachkenntnisse einen Stilvergleich anzustellen, als dessen Ergebnis sie BHL 2268, bisher Adam von Paris, einem Autor des 11. Jh. zugeschrieben, ins Früh-MA umdatiert und Adam stattdessen zum Autor von BHL 2270 macht. Die entscheidenden Charakteristika von Adams Stil sind für sie „several anaphoras or epanaphoras ..., as well as alliterations and figurae etymologicae“ (S. 318), „the frequent use of coordinate participles“ (ebd.) und ähnliches. Im Anhang findet sich eine katastrophal missglückte Transkription eines weiteren hagiographischen Werks Adams, der Passio Alexandri (BHL 284d), nach Padua, Univ.-Bibl., 1622 (einige Highlights: S. 322: quatinus … vel scripta enim darem [sic für emendarem] vel abiecta … innovarem; ebd.: omnia … omnibus factus sum ut omnibus [sic für omnes] lucti [sic für lucri] facerem; S. 325: modo te lactas [sic für iactas], ut assolent pueri; S. 328: implens auras gentibus [sic für gemitibus]). – Lidia Buono, Pietro Diacono, San Marco di Atina e un testimone cassinese ritrovato (S. 329–366, 5 Abb.), kann in der Hs. Montecassino, Bibl. dell’Abbazia, 111III, S. 414–418, ein Fragment der Translationserzählung des Petrus Diaconus von Montecassino (1107–nach 1159) aus dem 12. Jh. und damit aus unmittelbarer Autornähe identifizieren, das den Gelehrten des 17. und 18. Jh. noch bekannt war, aber seitdem vergessen wurde. Eine Neuedition des Textes unter Berücksichtigung dieses unschätzbaren Textzeugen ist beigegeben. – Lorenzo Saraceno, Dal santo vivente al santo da canonizzare. Una rilettura del dossier agiografico romualdino (S. 367–384), findet in der Vita quinque fratrum des Bruno von Querfurt und der Vita Romualdi des Petrus Damiani, die nachweisbar ohne Kenntnis des älteren Textes entstanden ist, gewisse Übereinstimmungen, die vielleicht auf eine ravennatische Tradition hindeuten könnten.
V. L.
(Rezensiert von: Veronika Lukas)