Roman Zehetmayer, Die Entstehung des Landes (Nieder-)Österreich und des Landesbewusstseins seiner Bewohner im hohen Mittelalter (Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreich 43) St. Pölten 2022, Verein für Landeskunde von Niederösterreich, 336 S., ISBN 978-3-901234-39-2, EUR 26. – Die Frage nach den Kriterien, die im MA ein Land im Rechtssinn charakterisieren, zählt seit vielen Jahrzehnten zu den wesentlichen verfassungshistorischen Themenstellungen der Mediävistik. Die Liste prominenter Historiker – hier namentlich Heide Dienst –, die dazu publiziert haben, ist entsprechend lang, insbesondere in der österreichischen MA-Forschung. Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Diskussion waren Otto Brunners grundlegende Ausführungen und Definitionen zum Landesbegriff und der Landesentstehung, die, wenn auch nicht unwidersprochen, bis heute impulsgebend sind. Z. hat sich als Jüngster in der langen Reihe verdienstvoller österreichischer Landeshistoriker wieder eingehender mit der Thematik beschäftigt und nach etlichen Aufsätzen nun auch eine Monographie vorgelegt, die sich mit der Entstehung Niederösterreichs als Kernland Österreichs auseinandersetzt. In der Tradition von Othmar Hageneder und Maximilian Weltin folgt er einem gegenüber Otto Brunner modifizierten bzw. differenzierteren Modell: Voraussetzung für die Anwendung des Landesbegriffs ist eine Interessengemeinschaft von Adel und Landesherrn, die zu Versammlungen zusammenkommt und von einem einheitlichen Recht zusammengehalten wird. Entscheidend ist auch die Bündelung von Macht und Herrschaft in der Hand des Landesfürsten, der innerhalb seines Herrschaftsraums das Land formt. Der Frage nach der Landesentstehung im verfassungsrechtlichen Sinn wird in der jüngeren Forschung jene nach dem Landesbewusstsein, also die Ausbildung des „Wir-Gefühls“ in der Bevölkerung, im Sinne der Zugehörigkeit zu einem einheitlichen Land, zur Seite gestellt bzw. auch als allein konstituierend angesehen. Z. verbindet diese Komponenten aus verfassungshistorischen, machtpolitischen und kulturhistorischen Leitlinien und formt daraus seine Fragestellungen, die er systematisch anhand chronologischer Einheiten, beginnend mit dem späten 9. Jh. – als die karolingische Mark eingerichtet wurde und fassbar wird – bis zur Mitte des 12. Jh. „abarbeitet“. Dieser pragmatische Zugang ermöglicht eine sonst nicht erreichbare Vergleichbarkeit und führt zu dem hier nur verkürzt darstellbaren Ergebnis, dass die Landwerdung Niederösterreichs respektive Österreichs wesentlich von der Ausbildung einer kollektiven Identität, eines auf Raum und Herrschaft konzentrierten Zusammengehörigkeitsgefühls, bestimmt war. Tatsächlich lässt sich der Prozess der Landwerdung in der ersten Hälfte des 11. Jh. erkennen, seit den 1080er-Jahren sind die Konturen so deutlich, dass man Österreich als Land definieren kann. In der folgenden Zeit bis zur Mitte des 12. Jh. schritt die Entwicklung voran und verfestigte sich. Der langen Forschungsgeschichte zum ma. Landesbegriff und der jüngeren Tradition zur Frage der Ausbildung und Definition eines Landesbewusstseins hat Z. durch diese systematische Analyse der einzelnen Facetten und Komponenten einen wahrscheinlich nicht abschließenden, aber jedenfalls substanziellen Beitrag hinzugefügt, dem Vorbildwirkung zu wünschen ist.
Julia Hörmann-Thurn und Taxis