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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 80,1 (2024) *.

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Marco Papasidero, Translatio sanctitatis. I furti di reliquie nell’Italia medievale (Premio Istituto Sangalli per la Storia Religiosa 8) Firenze 2019, Firenze Univ. Press, 195 S., ISBN 978-88-6453-924-9, EUR 15. – Die Untersuchung beruht auf einer von Marina Montesano an der Univ. di Messina betreuten tesi di laurea und ist methodisch dem erstmals 1978 erschienenen Buch Furta sacra von Patrick Geary (vgl. DA 36, 329) verpflichtet, hat aber im Gegensatz zu diesem ihren Schwerpunkt nicht im westfränkischen und ostfränkisch-deutschen Raum, sondern ausschließlich auf der italienischen Halbinsel. Den hagiographischen Erzählungen der translatio wird die Überführung von Reliquien an andere Orte auch als Folge von Schenkungen, wundersamer Auffindung und käuflichem Erwerb vergleichend gegenübergestellt. Der zeitliche Horizont des untersuchten Textcorpus liegt zwischen dem 9. und dem 13. Jh. Die Berichte zur Markustranslation nach Venedig oder zur Nikolaustranslation nach Bari sind eher bekannte Texte, während die Fälle für Benevent, Trani, Catania und Amalfi, Narni, Guglionesi, Spoleto, Perugia und Pavia vergleichsweise unbekannt sind. P.s Erkenntnisinteresse zielt weniger auf eine akribische Rekonstruktion der Entstehungsbedingungen oder die causa scribendi der Texte; vielmehr folgt einer knappen historisch-politischen Einordnung des Geschehens die vertiefte Frage nach den erzählerischen Strategien der Hagiographen, ihrem Publikum, den Topoi der Berichte über die furta sacra (und auch deren Scheitern), den Motiven für die Konstruktion einer an die jeweiligen Heiligen gebundenen Memoria und den literarischen Methoden der Authentifizierung der Reliquien sowie nach den mit der Graböffnung verbundenen Praktiken, der Funktion von Träumen und Visionen für die Auffindung des Grabes und nach der prozessionshaften Überführung der Reliquien, ihrem adventus und ihrer depositio am neuen Kultort. Während der Reliquienraub nördlich der Alpen, wie Geary gezeigt hat, vor allem mit Akteuren aus dem monastischen Milieu verbunden war und der Etablierung neuer Heiligenkulte in Kirchen und Klöstern diente, erscheinen südlich der Alpen vor allem Laien als handelnd, die den Kult um die geraubten Heiligen zu Symbolen politisch-weltlicher Machtansprüche ihrer Städte und damit zum Ausdruck eines „orgoglio civico“ (S. 162) formten. Schade, dass der Vf. die deutschsprachige Forschung generell nicht rezipiert und deshalb die grundlegenden Untersuchungen von Hedwig Röckelein nicht einmal erwähnt werden. Das Buch liefert eine gut lesbare und informative, in einzelnen Fällen mit neuen Erkenntnissen verbundene Übersicht – und vertieft facettenreich die Einsicht, dass Translationsberichte nicht historisches Geschehen wiedergeben, sondern bestimmten Topoi und der interessegeleiteten Konstruktion von Erinnerung verpflichtet sind. Die Darstellung schließt nach fünf sinnvoll gegliederten und gut nachvollziehbar argumentierenden Kapiteln mit einem knapp kommentierten Verzeichnis der herangezogenen Quellen, zwei Tabellen zu deren Datierung, Entstehungsorten und Motivation der Überführung sowie einem Namenregister.

Knut Görich

(Rezensiert von: Knut Görich)