Christoph Galle, Predigen im Karolingerreich. Die homiletischen Sammlungen von Paulus Diaconus, Lantperhtus von Mondsee, Rabanus Maurus und Haymo von Auxerre (Sermo 18) Turnhout 2023, Brepols, 515 S., Abb., Tab., ISBN 978-2-503-60414-5, EUR 125. – Die Hamburger Habil.-Schrift will „die karolingerzeitlichen Predigtsammlungen insbesondere als Quelle für ein besseres Verständnis der Sozial- und Kulturgeschichte des Frankenreichs nutzbar“ machen sowie „die Beweggründe, Vorstellungen und Ziele der karolingischen Predigtreform“ aufzeigen, wobei die „von Paulus Diaconus, Lantperhtus von Mondsee, Rabanus Maurus und Haymo von Auxerre erarbeiteten Musterpredigtsammlungen“ (S. 37) im Zentrum stehen. Im Hauptteil wird zuerst allgemein über Prediger, Predigten und deren Umfeld vor dem Hintergrund karolingischer Gesetzgebung informiert, danach über die genannten Predigtsammlungen im Einzelnen und schließlich besonders ausführlich über die wichtigsten immer wieder in den Predigten behandelten Themen (dogmatische Fragen, Polemik gegen Heidentum, Ermahnung zu einer christlichen Lebensführung etc.). Ein kürzeres Kapitel ist dem Nachleben und der Überlieferung insbesondere von Hrabans Predigten gewidmet. Umfangreiche Anhänge sollen die Quellen jeder einzelnen Predigt des Paulus Diaconus, Lantperhts und Hrabans zusammenstellen; außerdem gibt es eine (weitgehend aus Raymund Kottjes Hss.-Verzeichnis geschöpfte) Übersicht über Codices, die Predigten Hrabans enthalten, sowie ein abschließendes Verzeichnis der zitierten Codices (unbrauchbar, da ohne Seitenverweise), eine umfangreiche Bibliographie sowie Indices zu Personen, Orten, Sachen und Bibelzitaten. Die Grundidee von G.s Buch findet sich vielleicht am klarsten hier ausgedrückt: „Der Blick in die Predigten der karolingischen Mustersammlungen gleicht einem Brennspiegel, in dem sich die Alltagswelt, die sozialen Probleme und die politischen Herausforderungen im Frankenreich des 8. und 9. Jahrhunderts verdichtet und besonders anschaulich zeigen … Die Predigten weisen kein einziges Thema auf, das nicht schon zuvor Gegenstand königlicher Erlasse oder von Beratungen auf Bischofsversammlungen war“ (S. 361). Dementsprechend setzt G. alle Themen, die sich sowohl in Predigten als auch in weltlichen oder kirchlichen Gesetzestexten erwähnt finden, in einen kausalen Zusammenhang, und wenn sich bestimmte karolingische Themenfelder wie z.B. Adoptianismus oder Prädestinationslehre in den Predigten nicht behandelt finden, sucht er mehr oder weniger gezwungen politische Erklärungen dafür (vgl. etwa S. 233f. oder 239f.). Dass die Erstellung von Predigtsammlungen in den allermeisten Fällen liturgischen Anforderungen folgte, wird kaum reflektiert, und man mag die hier vertretene Auffassung des Zusammenspiels von Politik und Predigt für unzulässig simplifizierend halten. Das eigentliche Problem des Buchs liegt aber darin, dass die Behandlung des zu Grunde liegenden Materials sehr oft unzuverlässig oder fehlerhaft ist. So berücksichtigen etwa G.s Ausführungen über das Homiliar des Paulus Diaconus nur sehr eingeschränkt die moderne Forschung zu dessen ursprünglicher Struktur (vgl. etwa S. 172–174 zu Zachary Guilianos rezenter Monographie, vgl. DA 79, 785f.), beruhen im Wesentlichen aber auf dem Abdruck in Migne PL 95 (vgl. etwa S. 174–176), welcher von der karolingischen Form des Homiliars bekanntlich durch über 50 interpolierte Predigten abweicht. Das führt dann u.a. dazu, dass G. S. 307f. eine Predigt In die sancto paschae diskutiert („nicht völlig auszuschließen, dass es sich um eine eigene Kompilation des Paulus Diaconus handelte“) und zur Interpretation heranzieht, obwohl diese eine späte Zutat darstellt und in keinem Zeugen des Homiliars von Wert vorliegt. G.s allein der PL folgende Quellenübersicht S. 413–422 stellt nicht nur einen Rückschritt im Vergleich zu den grundlegenden Analysen Réginald Grégoires dar, sondern repräsentiert überhaupt einen seit mehr als 150 Jahren veralteten Forschungsstand. Auch die entsprechenden Angaben zu den Quellen des – von G. nicht klar identifizierten (s.u.) – Ps.-Beda-Epistelhomiliars (S. 423–426), der Lantperht-Sammlung (S. 427–431) sowie von Hrabans Predigtsammlungen (S. 433–446) vergröbern bloß die genaueren Analysen von Henri Barré (vgl. DA 18, 579), Raymond Étaix und Silvia Cantelli Berarducci (vgl. DA 65, 245f.). Für Verwirrung sorgen Aussagen wie „Gregor Magnus [sic] … widmete nicht nur in seiner ‘Regula pastoralis’ … der Bedeutung des Predigtamtes ein eigenes Kapitel, mit dem später fertiggestellten ‘Liber pastoralis curae’ legte er sogar ein eigenständiges Predigtlehrbuch vor“ (S. 29), obwohl Regula pastoralis und Liber pastoralis curae bloß zwei Namen für ein- und dasselbe Werk Gregors (CPL 1712) sind; oder „In Ms. Bodley 267 sind sogar mehr Stücke von Paulus Diaconus enthalten als von Augustinus, Hieronymus, Leo und Maximus zusammen“ (S. 375), obwohl Paulus Diaconus sein Homiliar ausschließlich aus patristischen Predigten kompilierte und eben die vier genannten Autoren zu seinen Hauptquellen zählen. Am unzuverlässigsten ist aber G.s Behandlung des Lantperht-Homiliars. Der zwischen 811 und 819 in Mondsee geschriebene Codex Wien, Nationalbibl., 1014, enthält den (unvollständig erhaltenen) Sommerteil eines Homiliars, an dessen Beginn man liest: In gloriam et honorem dei atque Hildebaldi archiepiscopi ego Lantperhtus abbas hunc librum rogabo scribere … Niemand hat aus dieser Angabe bisher mehr herausgelesen, als dass Lantperht das betreffende Buch für Erzbischof Hildebald von Köln schreiben hat lassen, aber G. behandelt Lantperht ohne Diskussion als „Verfasser“ des Homiliars (S. 176, 178 u.ö.), als sei bewiesen, dass die einzelnen Predigten aus seiner Feder geflossen sind. Um der Frage der Autorschaft seriös nachzugehen, wäre nicht zuletzt ein Vergleich mit dem eng verwandten sogenannten Bayerischen Homiliar notwendig gewesen, das sehr reich überliefert ist, von G. allerdings, wenn ich nichts übersehen habe, im ganzen Buch kein einziges Mal erwähnt wird. Es kommt aber noch schlimmer: Der Codex Köln, Dombibl., 172, ist eine Kopie des Winterteils des äußerst beliebten sogenannten Ps.-Beda-Epistelhomiliars und aufgrund seiner Paläographie als Mondseer Produkt aus der Zeit Lantperhts anzusehen. G. stellt die absurde Frage, ob in diesem Buch etwa der die Lantperht-Sammlung ergänzende Winterteil vorliegen könne, obwohl die Lantperht-Sammlung ausschließlich Evangelien-Lesungen behandelt, Ps.-Beda ausschließlich Epistel-Lesungen; seine verworrene Diskussion kommt zwar in einem ersten Schritt (S. 102f.) zu einem halbherzig negativen Ergebnis, aber in der Tabelle S. 132–159 werden der Wiener und der Kölner Codex als „Cod. I“ und „Cod. II“ nebeneinandergestellt, als seien sie zusammengehörig, und S. 176 liest man von den „beiden Mondseer Homiliaren, als deren Verfasser Lantperhtus einmal gesichert und einmal sehr gut möglich ist“, die zwei Codices werden als „pars hiemis“ und „pars aetatis“ wie selbstverständlich als Einheit behandelt (S. 176–180). Ausnahmslos alle Zitate im gewichtigen Kapitel IV (S. 197–361), die G. „Lantperhtus“ zuschreibt, stammen tatsächlich aus dem Ps.-Beda-Epistelhomiliar, benutzt nach Köln, Dombibl., 172, sind also falsch; die echte Lantperht-Sammlung wird, wenn ich nichts übersehen habe, nie herangezogen. Wer sich über Lantperht, das Bayerische Homiliar sowie das Ps.-Beda-Epistelhomiliar informieren möchte, muss auf die grundlegenden Arbeiten Henri Barrés zurückgreifen (die G. ebenso wie die für andere Homiliare essentiellen Arbeiten Raymond Étaix’ und Réginald Grégoires zwar zitiert, aber zu oberflächlich benutzt). Abschließend ein für das Buch charakteristisches Detail: Zwei Seiten lang (S. 366f.) diskutiert G., ob das Homiliar Wolfenbüttel, Herzog August Bibl., Weiss. 46 (s. IX1) eine Schöpfung Hrabans sein könnte, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen; S. 453 nimmt er den Codex in die Liste „Unsichere Zuordnung“ auf. Tatsächlich handelt es sich um ein am Ende unvollständiges (vgl. Migne PL 102 Sp. 274 A) Exemplar der Expositio libri comitis des Smaragd von Saint-Mihiel, die ein karolingischer ‘Bestseller’ der Predigtliteratur war: Man sollte meinen, die Identifikation stelle für den Vf. einer Monographie über karolingische Predigtsammlungen kein Problem dar.
Lukas J. Dorfbauer
(Rezensiert von: Lukas J. Dorfbauer)