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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 80,1 (2024) *.

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Creating and Sharing Legal Knowledge in the Twelfth Century. Sankt Gallen, Stiftsbibliothek, 673 and Its Context, ed. by Stephan Dusil / Andreas Thier (Medieval Law and Its Practice 35) Leiden / Boston 2023, Brill, XII u. 265 S., Abb., ISBN 978-90-04-42829-4, EUR 123,05. – Der sehr anregende Sammelband geht zurück auf eine Tagung in St. Gallen, die im Juni 2018 in der dortigen Stiftsbibliothek stattfand. Der im Zentrum stehende Codex (Sigle: Sg) wurde vor über 20 Jahren durch einen Aufsatz von Carlos Larrainzar (vgl. DA 56, 646) der Forschung bekannt gemacht und war seitdem Gegenstand einer lebhaften Debatte, welchen Status er innerhalb der Textgeschichte des Decretum Gratiani einnimmt. In dieser Frage ist auch weiterhin kein Konsens erreicht worden, so dass – wie Andreas Thier in seiner Einleitung (S. 3–13) festhält – andere Fragen im Zentrum des Bandes stehen. Diese Fragen betreffen v. a. den Umgang mit und die Bearbeitung der Quellen sowie die zu erkennenden Wissenskonzepte und den Gebrauch der Hs. im Rechtsunterricht, wobei eine „remarkable fluidity“ (S. 9) den Codex auszeichnet. Philipp Lenz (S. 17–55) beschäftigt sich detailliert mit der Materialität und Ausstattung des Codex, den paläographischen Besonderheiten samt den verschiedenen Schreiberhänden und Annotationen sowie mit Datierung, Verortung und Provenienz. Die Hs. wurde im mittleren 12. Jh. in Nord- bzw. Mittelitalien geschrieben, wahrscheinlich in Modena oder Bologna. Enrique de León (S. 59–77) analysiert die Definition von Ehe anhand von C.25 q.2 (= C.27 q.2, ed. Friedberg). Er kann nachweisen, dass Sg noch sehr der älteren kanonistischen Tradition im Gegensatz zu späteren Versionen des Decretum verhaftet ist. Dies gehe einher mit einer nicht sonderlich stark ausgeprägten sprachlichen und konzeptionellen Präzision in Sg. Melodie H. Eichbauer (S. 78–94) setzt sich anschließend genauer mit der sog. Prima Causa auseinander, die unikal in Sg überliefert ist und die Klerikerehe sowie Ordination und Amtswürde thematisiert. Sie kann zeigen, dass der Text einem Unterrichtsszenario entsprungen ist, wichtig für den Rechtsunterricht war und dass sich Unterschiede zur Behandlung der Themen in den Distinctiones finden lassen. Titus Lenherr (S. 95–117) geht auf sprachliche Besonderheiten des Decretum in Sg anhand verschiedener Beispiele ein und kann so deutlich machen, dass die Fassung in Sg ihren Ursprung in konkreten – d. h. mündlichen – Unterrichtssituationen hat. John C. Wei (S. 118–139) nimmt eine einem Papst Bonifaz zugeschriebene Wundergeschichte in den Blick, die unikal in Sg überliefert ist. Diese Geschichte thematisiert insbesondere die Bedeutung der Buße und bedient sich zahlreicher kirchenrechtlicher Exzerpte. Der Beitrag von Atria A. Larson (S. 143–166) ist wieder mehr kodikologisch ausgerichtet; sie behandelt die verschiedenen Annotationen, die den Gebrauch im Unterricht deutlich visualisieren. Kenneth Pennington (S. 167–182) geht sodann anhand der Glossierung und der Ergänzungen von römischem und kanonischem Recht auf die lange währende Nutzung der Hs. im Unterricht ein. José Miguel Viejo-Ximénez (S. 183–217) behandelt ebenfalls umfangreich und detailliert verschiedene Arten von Glossen in Sg. Anders Winroth (S. 221–241) lenkt den Blick auf die Epitomierungen des Decretum Gratiani, die wichtige Rückschlüsse auf die Textgeschichte zulassen und Zeugen dafür sind, wie man mit dem Text umging, der erst ab der Mitte des 12. Jh. stabiler wird. Stephan Dusil (S. 245–251) fasst die Ergebnisse abschließend konzise zusammen, ehe eine Bibliographie, die wichtige Arbeiten zu Sg auflistet, ein Hss.- und ein Personenregister sowie ein Register zu Werken, Konzilien und Dekretalen folgen (S. 253–265). Der Band zeigt sehr gut, wie lohnend es sein kann, einzelne Hss. aus unterschiedlichen Perspektiven heraus intensiv zu analysieren. Die Ergebnisse sind überzeugend und zeichnen ein vielschichtiges und komplexes Bild eines für die Textgeschichte des Decretum Gratiani, den Umgang mit rechtlichen Normen und insbesondere die Anfänge des Rechtsunterrichts im hohen MA bedeutsamen Codex.

 D. T.

(Rezensiert von: Dominik Trump)