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Grischa Vercamer, Hochmittelalterliche Herrschaftspraxis im Spiegel der Geschichtsschreibung. Vorstellungen von „guter“ und „schlechter“ Herrschaft in England, Polen und dem Reich im 12./13. Jahrhundert (Deutsches Historisches Institut Warschau, Quellen und Studien 37) Wiesbaden 2020, Harrassowitz, XII u. 792 S., ISBN 978-3-447-11354-0, EUR 98. – Der Vf. geht einen neuen Weg in der Meinung, dass seine Monographie (die überarbeitete Fassung seiner Habil.-Schrift) als Pilotprojekt (S. 1, 58, 347) innovative Perspektiven für die Erforschung der ma. Schriftlichkeit eröffne. „Weder in der modernen Soziologie noch in der modernen Mediävistik“ gebe es bislang Konzepte, die die korrekte Analyse ma. Chroniken ermöglichen würden (S. 56). Sein Ziel sei es, die Herrschaftsvorstellungen der Geschichtsschreiber des langen 12. Jh. offenzulegen, die sich nicht auf die damals verbreiteten Theorien reduzieren lassen und deren selbst die Autoren der untersuchten Werke sich möglicherweise nicht immer bewusst waren. Für seine Analyse wählt der Vf. auf Grundlage der von ihm angelegten Kriterien (S. 63f.) sechs historische Werke aus drei Ländern: aus England (Wilhelm von Malmesbury, Roger von Howden), aus Polen (Gallus Anonymus, Vincenz Kadłubek) und aus dem Reich (Otto von Freising/Rahewin, die anonyme Historia Welforum). Jedes Werk wird nun keinesfalls nach allgemeinen Deklarationen etwa zur Natur von Herrschaft, zu den Tugenden christlicher Fürsten oder den Lastern der Tyrannen usw. befragt, sondern dahingehend untersucht, wie der jeweilige Autor das konkrete praktische Handeln der von ihm geschilderten Könige/Fürsten akzentuiert. Wie sich jeder König/Fürst „in Wirklichkeit“ benahm oder aussah, ist bei dieser Fragestellung völlig irrelevant, weil der Vf. allein die Vorstellungswelten der Geschichtsschreiber im Visier hat. Dafür zerlegt er zunächst die gesamte ma. Herrschaftspraxis in acht „Tätigkeitsfelder“ (S. 57). Auf sechs von diesen Feldern erscheint der König/Fürst je nachdem als Richter, Verwalter, Politiker/Diplomat, Gesetzgeber, Krieger/Heerführer oder frommer Herrscher. Das siebte Feld umfasst seine Aktivitäten im Bereich der Repräsentation, während im achten Feld seine Charaktereigenschaften, sein Habitus wie auch seine Gewohnheiten zum Ausdruck kommen. Mit dem nächsten Schritt werden in jedem Werk alle Stellen identifiziert, in denen die regierenden Protagonisten auf einem von diesen Tätigkeitsfeldern dargestellt werden. Es werden schließlich 672 solcher Textfragmente hervorgehoben: Sie sind sowohl in deutscher Übersetzung in einer Anlage zur Monographie zusammengefasst (S. 369–703) als auch auf Latein vollständig in einer externen, aber jedem Interessierten zugänglichen Datenbank gesammelt (vgl. S. 59–61 und 347 Anm. 1). Parallel analysiert der Vf. die persönlichen Stilelemente und Erzählstrategien jedes Autors. Die Ergebnisse sind quantitativer Natur und werden in Tabellenform (vor allem S. 362–368) wie auch als farbige Diagramme (S. 356–361) zu jedem der gewählten Autoren präsentiert. Die daraus resultierenden Proportionen müssen die versteckte innere Struktur jedes historischen Narrativs sowie die echten (im Gegensatz zu den deklarierten) Ziele der Autoren ans Licht bringen. Das finale Gesamtbild erscheint allerdings bunt gemischt: Jeder Autor setzte die Akzente auf seine eigene, individuelle Weise. Dennoch entdeckt der Vf. auch bestimmte Tendenzen. Er betont, dass sowohl die Frömmigkeit der Könige/Fürsten als auch ihre repräsentativen Aktionen und selbst ihre Fähigkeiten als Krieger/Heerführer für die meisten Autoren bei weitem nicht auf dem ersten Platz standen (S. 345). Durchaus vorsichtig stellt er die Frage nach eventuellen Besonderheiten der (mit allen denkbaren Vorbehalten) „nationalen“ Herrschaftswahrnehmung (S. 276, 351f.). So schreiben die Engländer sachlich-nüchtern, kritisieren ihre Könige und beurteilen sie je nachdem, ob sie ihr Land ordentlich verwalten oder eben nicht (S. 295–298). Die Deutschen benutzen zwar auch einen sachlichen Erzählstil, erlauben sich aber keine Kritik und legen den größten Wert auf die Qualitäten des Politikers/Diplomaten (S. 332, 338). Die Polen bevorzugen einen gehobenen Stil und sprechen ihren Protagonisten – im Gegensatz zu den übrigen Autoren – die Fähigkeit nicht ab, sich eventuell zum Besseren entwickeln zu können. Außerdem rechtfertigen sie allein bestimmte Grausamkeiten ihrer Könige (S. 321–323, 345f., 352). Übrigens kann man sich der Kritik des Vf. nur anschließen, der der deutschen Mediävistik mangelndes Interesse an den ostmitteleuropäischen Nachbarn vorwirft (S. 5). Mediävisten berauben sich selbst, wenn sie solch herausragende Denkmäler der lateinischen Geschichtsschreibung wie die beiden polnischen Chroniken außer acht lassen. Schließlich macht V. den Versuch, bestimmte Korrelationen zwischen den Besonderheiten der „nationalen“ Herrschaftswahrnehmung und den strukturellen Entwicklungen jedes Landes zu finden (S. 296f., 323–325, 339–341) – soweit letztere in der modernen Forschung wahrgenommen werden (S. 122–161). Der Vf. legt ausgesprochen großen Wert auf die methodische Seite seines ambitionierten Werks. Um jedem Vorwurf der Willkür zuvorzukommen, führt er den Leser Schritt für Schritt durch seine gesamte Werkstatt. Dadurch entstehen zahlreiche Wiederholungen, wodurch das Buch extrem angeschwollen ist. Eben dieser immense Umfang dürfte der Grund dafür sein, dass der Leser auf mehr als die erwartete Anzahl von Tippfehlern stößt.

Michail Bojcov

(Rezensiert von: Michail Bojcov)